Wie Jerusalem-Experte Vincent Lemire 4000 Jahre Stadtgeschichte in einen Comic-Band packt – und die Deutsch-Israelische Gesellschaft verärgert

Was würde sich besser für Weihnachten eignen als Jerusalem? Stimmt, Bethlehem, aber dazu gibt’s grade keinen Comic. Außerdem hat „Jerusalem“ gerade einen schönen Skandal verursacht, und Streit gehört an Weihnachten ja auch dazu, was will man also mehr?
Mild humorgewürzt
Der Band selbst ist groß, schwer, bunt, erinnert optisch ein wenig an die Comicversion von Hararis Bestsellern. Was bedeutet: Nett gezeichnet (von Christophe Gaultier), kommerziell, keinesfalls herausfordernd, was aber gerade bei Sachcomics stets eine plausible, absolut zulässige Option ist. Autor ist der Historiker Vincent Lemire, der vier Jahre lang das französische Forschungszentrum in Jerusalem leitete, sich auf die Stadt spezialisiert und auch schon einige gut/skandalfrei verkäufliche Bücher zu diesem Thema verfasst hat.

Der Inhalt: 4000 Jahre Stadtgeschichte in zehn Kapiteln, geschildert aus der Perspektive eines langlebigen Ölbaums auf dem Ölberg – was überraschender Weise tatsächlich denkbar ist. Mild humorgewürzt arbeitet Lemire die vier Jahrtausende chronologisch auf, sehr gründlich, sehr detailliert, leicht zugänglich, unterhaltsam – trotzdem ist das Ergebnis nicht unbedingt an einem Tag runterzulesen und damit mehr was für „Über die Feiertage“. Allerdings hat diese Detailtiefe auch Tücken.
Fundgrube für Reliquien
Lemire erzählt viel, oft anhand alter Quellen, Briefe, Dokumente, und diese Anekdotenhaftigkeit hat eindeutig unterhaltsame Vorteile. Die sich inhaltlich jedoch mitunter als Nachteile entpuppen: Sehr oft übernimmt Lemire einfach die Quelleninhalte, ohne Fakten und Legende, Beobachtung und Tatsache deutlich zu unterscheiden. Und, ja: Man könnte denken, Lemire hätte vielleicht einfach dank seines Fachwissens nur Zutreffendes ausgewählt. Aber als dann im 6. Jahrhundert in Jerusalem die Reliquien wundersamer Weise wie Pilze aus dem Boden kommen, sagt er nichts dazu.

Sicher: Der Unsinn des Ganzen lässt sich für jeden Erwachsenen und die meisten Kinder erschließen, aber Lemires Hilfe dazu ist so spärlich, dass bei den folgenden Schilderungen oft nicht sicher ist, ob das jeweilige Mirakel, Massaker oder Memoir zutreffend, erträumt oder übertrieben ist. Zumal gerade im 19. Jahrhundert praktisch jeder, der einen Stift halten konnte, seinen Senf zu der Stadt und ihrem Zustand gegeben zu haben scheint (Melville, Curzon, Chateaubriand, Gogol, Flaubert, Hinz, Kunz). Da habe ich Orientierungshilfen vom Fachmann öfter mal vermisst.
Das irre „Wer war zuerst da?“-Spiel
Trotzdem bleibt einiges hängen: Etwa die Irrsinnigkeit, in diesem jahrtausendealten Brennpunkt ein „Wer war zuerst da?“-Spiel anzufangen. Oder die Erkenntnis, dass es dieser Stadt (und diesem Land) gut tut, wenn jeder sein Ding macht – und schadet, wenn einer oder mehrere die anderen bekämpfen oder gar umbringen. Schon angesichts dessen ist die kürzliche Skandalisierung extrem unangebracht.

Der Comic hätte nämlich Anfang Dezember in Berlin vorgestellt werden sollen. Begleitet von Volker Beck, dem Chef der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Der ließ allerdings dann die Veranstaltung platzen, weil Lemire was angeblich Schlimmes gesagt hat: Dass man nämlich den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Ministerpräsidenten ausführen sollte, wenn Benjamin Netanjahu mal nach Frankreich käme. Eine Meinung, der man sich anschließen kann oder nicht, die jedoch eines mit Sicherheit nicht ist: schlimm. Fürchtet Euch also nicht, jedenfalls weder vor Comic oder Autor, sondern allenfalls davor, dass man nach dieser Lektüre noch die eine oder andere zusätzlich brauchen kann. Ich empfehle ergänzend die nachgerade hinterlustige Comic-Satire „Tunnel“ von Rutu Modan!
Frohes Fest!
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Craig Thompsons Autobio-Sach-Reise-Essay „Ginsengwurzeln“ wird als große „amerikanische Saga“ bejubelt: Was ist dran am Wurzel-Werk?

Saga-Hype im Comic-Land. „Ginsengwurzeln“ heißt die neueste „große amerikanische Saga“ (SZ, unisono mit der 3sat-Kulturzeit), die taz jubelt über „akribische Recherche“, und da klingeln bei mir schon alle Alarmglocken, denn „Saga“ ist oft nur journalistisch für „Oh, so ein dickes Buch“. Aber diesmal? Der Autor ist immerhin Craig Thompson, gefeierter Meister des autobiographischen Comics, und autobiographisch wird’s diesmal auch – also: wo soll das Problem sein?
„Oh, so ein dickes Buch“
Tatsächlich gibt es zunächst auch keines. Thompsons Zeichnungen sind hochwertig, mild karikierend, stilistisch nah an Will Eisner. Die Panels sind oft nicht eingekastelt, sondern geschickt konstruiert, alles ansehnlich und einladend. Thompson erzählt die Geschichte seiner Jugend in der US-Provinz in Wisconsin, wo (für mich überraschend) jeder Ginseng anbaut, wohl so ähnlich wie Hopfen in der Hallertau.

Thompson jobbt von klein auf mit und erarbeitet sich so seine Comichefte. Ein hartes, freudloses Geschäft, durch Comics versüßt, so weit, so gut. Ein bisschen nervt, dass in einem Sachcomic dauernd ein Ginsengwurzelchen mit Niedlich-Augen durchs Bild springt, Ginselchen sozusagen. Was so seriös wirkt wie ein Richter mit Clownsnase, aber das ist wohl Geschmackssache. Viel nerviger ist etwas anderes.
Allgegenwärtiges Ginselchen
Etwa ab Seite 50 des 450-seitigen Wälzers fällt erstmals auf, dass man eine Menge lernt und zugleich doch nicht. Ginseng hat offenbar ein Problem: Wo man einmal Ginseng angebaut hat, wächst er kein zweites Mal. Was sofort die Frage aufwirft: Wie kann man dann dauerhaft Ginseng in ein- und derselben Region anbauen?

Seit Jahrhunderten wird er doch in Wisconsin gezogen, und das nicht für zwei kleine Ökoshops, sondern für den weltweiten Export. Also müsste er sich durchs Land fressen wie Braunkohletagebau, eine Schneise von Feldern zurücklassend, die für Ginseng nutzlos sind. Und die Farmen müssten ihm folgen. Aber Ginseng und Farmer sind immer am selben Fleck. Wie geht das?? Kann es sein, dass ich hier nach „akribisch recherchierten“ 450 Seiten erst mal ein richtiges Buch brauche? Nee, oder?
Argumente wie aus dem Reformhaus
Aber der Verdacht bestätigt sich. Gleich doppelt enthüllt Thompson, dass Ginseng „das Metall scheut“, dass die Wurzel „Angst vor Metall“ hat. Wie sich das äußert? Keine Ahnung, ist halt so. Thompson schildert auch, wogegen Ginseng hilft – „womöglich“. Er zeigt, was Farmer mit dem Ginseng machen, begründet es aber mehr oder weniger mit deren Bauernregeln. Das ist nicht „akribisch recherchiert“, sondern Information auf Reformhausniveau. Was besonders enttäuscht, weil sich Thompson erkennbar viel Mühe macht.

Er redet mit vielen Leuten, er zeichnet sich die Finger wund – im Wortsinne, ein Teil der Geschichte besteht darin, dass seine Zeichenhand erkrankt, also erzählt er auch über Medizin und über chinesische Medizin, und erzählt und erzählt und erzählt. Über laotische Einwanderer, die eigentlich aus China stammen, und warum sie dort nicht mehr sind und über den Vietnamkrieg und den Koreakrieg, über den christlichen Glauben und, wo wir schon dabei sind, auch noch seine über eigene christliche Familie. Detailversessen, aber völlig ziellos.
Detailversessen, aber ziellos
Denn Thompson geht keiner Frage nach: Er will nur irgendwas über Ginseng erzählen. Er kann das Equipment eines chinesischen Ginseng-Jägers aufdröseln, vom Knochenspaten bis zu den geteerten Schweinslederstiefeln. Aber er kann nicht sagen, wozu man genau dieses Zeug braucht. Es ist, als würde einem ein gewaltiger Sack voll Krempel auf den Tisch geleert. Und wenn man fragt, was das soll, sagt Thompson: „Moment!“ und holt einen weiteren Sack voll Krempel.

Sorry, Krempel, man kann es nicht anders nennen, denn „Infos“ sind es nicht, weil Thompson offenbar NICHTS aussortiert. Legenden, Gerüchte, Fakten, Zahlenmystik, alles wird reingeschmissen und schöngezeichnet. Wie es in ihn hineinfließt, so strömt es in den Comic. Und je deutlicher das wird, desto mehr nervt es: Weil man bei jedem neuen ausufernden Kapitel merkt, dass man bei aller Langatmigkeit nichts wirklich erfährt. Mit einer Ausnahme.
Der Bruder braucht 'ne Auszeit
Manchmal schildert Thompson, wie ihm andere Leute ihre Lebensgeschichte erzählen. Das ist dann halbwegs verlässlich, etwa so, als würde man selber zuhören. Über zig Seiten arbeitet ein chinesisch-stämmiger Ginsengfarmer hart. Und erinnert sich an seinen hart arbeitenden Vater. Und dessen Beerdigung. Und das Ritual, und wie alle Schiffchen falten, und Thompson malt auch noch eine (nicht funktionierende) Faltanleitung, es hört und hört nicht auf. Irgendwann, als Thompson mit seinem Bruder nach Korea fährt, seilt sich der Bruder ab, und man hat eine sehr laute leise Ahnung, warum.

Der Plan war ein anderer: In Interviews sagt Thompson beispielsweise, er wollte zeigen, wie sich aus einer kleinen Farmwirtschaft ein gewaltiges Business entwickelt hat. Tatsächlich liefert er dann wenig anderes als Farmer, die sagen: Du musst eben immer größer werden. Und wie geht das in einer Region, die man nie zweimal nutzen kann? Aber Thompson sagt: „Guck mal, noch ein Sack Krempel.“ Ähnlich läuft das mit den Pestiziden: Immer und immer wieder weist Thompson auf sie hin. Aber wozu, Herrgottnochmal? Sind sie schlimm, was sind die Folgen, haben alle Krebs, haben’s alle nicht? „Guck mal, noch mehr Krempel!“
Abgemilderte Geschwätzigkeit
Erstaunlich ist, dass man sich dann doch durch den ganzen Sums wühlt: Thompson ist ein recht sympathischer Plauderer, der seine Geschwätzigkeit mit attraktiven Bilder mildert. Aber hier ist weder eine große „amerikanische Saga“ noch eine Chance, Gelerntes irgendwann mal nutzen zu können: So gut wie alles in diesem Wurzel-Werk müsste man sicherheitshalber woanders präzisieren. Wo genau, steht in einigen Fällen im Anhang. Das ist vielleicht nicht akribisch, aber immerhin tröstlich.
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