Charles Berberians Zeitreise „Eine orientalische Erziehung“ schildert ein verschwundenes Beirut und einen vergessenen Libanon

Ich wundere mich über mich selbst. Denn das ist mal ein richtig ratloses Buch. Fast chaotisch. Und ich kann nicht anders, ich muss es dennoch mögen. Vielleicht eine Alterserscheinung? Der Comic heißt „Eine orientalische Erziehung“ und stammt vom Franzosen Charles Berberian. Weshalb ich ganz klar auf sowas wie den „Araber von morgen“ spekulierte. Aber das ist es definitiv nicht, sondern... irgendwie ganz was anderes.
Zwischen Stadtplan und Milhouse

Für meine Startprobleme ist Berberian selbst verantwortlich. Im Vorsatz direkt hinter dem Einband ist ein stilisierter Stadtplan von Beirut, und natürlich denkt man sofort „Aha, Sachcomic, Libanon, weiß ich nichts davon, sollte ich aber. Und dann die niedlichen Figuren auf dem Cover, zwischen Riad Sattouf und Bart Simpsons Kumpel Milhouse, was kann da schiefgehen?“
Volle Bandbreite
Aber Berberian beginnt in Paris, während des Lockdowns. Und zwischen Covid und Beirut springt er so lang umher, dass es beinahe schon nervt und mich nur eines vom Weglegen abhält: seine Zeichnungen. Schon lang hat niemand mehr eine so spannende Bandbreite an Stilen genutzt: Erst der Stadtplan, dann ein schön dick getuschtes Bild zweier Eltern, die ihren Sohn mit einem Koffer weggehen sehen. Fotos des leeren Paris, Stadtskizzen mit präzisen Strichen und dicken Farbschleiern, „Peanuts“-artige Cartoonskizzen, farbstrotzende Landschaften, all das sieht so gut aus, dass man rein handwerklich kaum glauben mag, dass da einer völlig den Faden verliert. Tut er auch nicht, der Faden ist nur nicht straff gespannt.
Verhedderte Familie
Der Lockdown erinnert ihn an den heraufziehenden Bürgerkrieg im Libanon. 1975 lebt der kleine Charles in Beirut. Um „Erziehung“ wie im Titel geht’s hier nicht, schon eher um Erinnern und Aufwachsen: Denn Berberian schildert vor allem seine verhedderte Familie, das Beirut der 70er Jahre und einen wundersam weltoffenen Orient, den man hier kaum kennt.
Ein Orient mit Pop und Pep
Charles und sein älterer Bruder Alain leben Ende der 60er Jahre zunächst bei der Oma. Die (geboren in Jerusalem, großgeworden in Alexandria) lernte dort einen Zyprioten kennen, der einen Job im libanesischen Beirut findet, im mondänen Saint-Georges-Hotel. Ihre Eltern arbeiten derweil in Bagdad und kommen erst 1974 ebenfalls nach Beirut, als sie dort Arbeit finden. Und eine Sache überrascht dabei noch mehr als der wirre Stammbaum.
Bikinis, Strandbad, Beauty-OPs
Die Oma wohnt in einer altmodischen, aber westlichen Wohnung. Sie und der Opa, die Eltern in Bagdad, alle laufen in Anzügen herum und quarzen wie die Schlote. Die Kinder rennen ins Strandbad, wo alles im Bikini herumspringt und Mama Berberian über Schönheitsoperationen nachdenkt. In Beirut entdeckt der große Bruder Alain (und spätere Regisseur) die Popmusik und Filme aus den USA und Frankreich. Der Frauenschwarm nimmt Charles sogar zum Ski-Wochenende mit: Und der kleine Charles beobachtet ihn bewundernd beim Tanzen, Flirten mit all den unverschleierten Frauen, es ist wie „Last Christmas“ im Libanon. Auch deshalb wird der Ausbruch des Bürgerkriegs bei Berberian gerade für westliche Augen so nachvollziehbar.

Man erlebt ihn aus der Perspektive einer Familie, die damit nichts zu tun hat, aber schnell lernt, dass man bei Schüssen sich in den Wohnungsflur setzt, weil der keine Fenster hat. Eingesperrt – wie plötzlich wieder beim Lockdown in Paris. In der Stadt also, in die sich die Familie Mitte der 70er vor dem Bürgerkrieg geflüchtet hat.
Vergangenheitsschmerz und Zukunftsangst

Hier wird dann klar: Der rote Faden ist Charles Berberian. Der seinen 2017 verstorbenen Bruder vermisst, seine Jugend und das Stadtbild von einst. Der mit den Verstorbenen spricht und sich in einer Situation findet, die er so zusammenfasst: „Die Vergangenheit ist schmerzlich und die Zukunft macht Angst.“ Aber es ist natürlich möglich, dass man um die sechzig sein muss, um das so zu empfinden.

Oder aber: Dass man einen Vater haben muss, der sich 1974, nur ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs, auf einer Geschäftsreise in Beirut knipsen ließ. Dank Berberian weiß ich inzwischen auch, wo: Am Platz der Märtyrer, der exakt zu jener Zeit noch ein pulsierender, palmenbegrünter Treffpunkt war, mit Cafés, Kinos (wie dem im Hintergrund), ein Platz auf dem das Leben tobte. Während des libanesischen Bürgerkriegs verlief hier die Konfliktgrenze. Heute ist der Platz leer und die Wohn- und Geschäftshäuser sind weg. Manchmal demonstrieren dort die Libanesen, aber meistens sind die Brachflächen einfach nur zugeparkt. Die Welt von einst scheint verschwunden. Oder schlummert sie nur unter dem Asphalt?