- 18. Mai
Ein Schiff voller Leichen, eine Nation vor dem Neuanfang: „Aale und Gespenster“ erzählt urlaubsfrisch von einer zwielichtigen Vergangenheit

Es weht ein frischer Wind durch die Vergangenheitsbewältigung. Erst kürzlich hat Hannah Brinkmann die Opferperspektive durch die mindestens genauso spannende Täterperspektive fruchtbar ergänzt, jetzt verlässt mit „Aale und Gespenster“ schon wieder ein Titel die so ausgetretenen Pfade der allgemein üblichen Standard-NS-Berichterstattung. Schön!
Debüt vor starkem Hintergrund
Der Band stammt vom Berliner Graphic-Novel-Debütanten Marius Schmidt. Der 42-Jährige strickt rund um ein historisches Ereignis einen Krimi, aber der Krimi bringt es grade mal zur Rahmenhandlung – Gottseidank. Denn das Eingerahmte ist viel besser.

1945 wird in der Lübecker Bucht das ehemalige Kreuzfahrtschiff „Cap Arcona“ bombardiert und versenkt. Das Schiff ist vollgestopft mit Tausenden von KZ-Häftlingen. Die Rettungswege und Rettungsboote sind von den Deutschen unbrauchbar gemacht, denn die ahnen oder hoffen, dass die Engländer ihnen mit einem Bombardement die Arbeit abnähmen, die unliebsamen Zeugen des Massenmords selbst versenken zu müssen. Genau weiß man’s nicht, zum Zeitpunkt des Untergangs sind jedoch erstaunlich wenige Deutsche an Bord. Aber das ist nur der Hintergrund der eigentlichen Geschichte, die direkt nach dem Krieg spielt.
Plünderfahrten zum Gespensterschiff
Casimir ist um die 20, aus Danzig geflohen, er arbeitet als Fischer und freundet sich mit dem ehemaligen Zwangsarbeiter Rimsky an. Gemeinsam beginnen sie, mit dem Boot zum nur halb versunkenen Wrack der „Cap Arcona“ zu fahren und sie auszuplündern. Trotz Gefahr und Gespenstergrusel ernten sie gut verkäufliches Blech, Besteck, Drähte, Kupfer – Schmidt breitet ein lebensnahes Bild von Deutschland unmittelbar nach dem Krieg aus.

Denn der ist noch überall gegenwärtig. In den Kriegsversehrten mit den Einschussnarben, in den Bildern vom Afrikakorps. Immer wieder tauchen Knochen im Boden auf, gibt es traumatisierte Veteranen. Jeder dreht was, jeder macht was, jeder nutzt seine Kontakte, alles ist halb illegal, halb geduldet, und von Hitlerporträts nutzt man nur noch den Rahmen. Selbstverständlich verlieben sich auch die beiden jungen Männer. Casimir in die Tochter seiner Vermieter, die erst spitzkriegt, womit die beiden Jungs ihr Geld verdienen – und dann mit an Bord will.
Schöne Legende statt Massenmord
Sie will ihren Vater reinwaschen, denn die Altnazis streuen bereits eine Legende, die viel schöner ist als die Sache mit den ermordungsbereit eingedosten KZ-Häftlingen: Die ganze Regierung hätte mit viel Nazigold nach Norwegen fliehen wollen, um den Kampf fortzusetzen – und die KZ-Häftlinge hätte man dort ja zum Festungsbau noch dringend gebraucht…

Vieles ist erfreulich an diesen munter-düsteren 200 Seiten. Die frische Erzählung mit den vielen Neuanfängen der Verliebten und Verlierer, die eigenwillig formbare Nachkriegswelt, die vielen kleinen und großen Lügen und Geheimnisse. Schön ist auch, dass Schmidt weder moralinsauer predigt noch irgendwen reinwäscht. Seine Optik unterstützt das: Obwohl sein Meer oft düster ist, zwischen blauschwarz und feldgrau, bläst Schmidt die Szenen mit jeder Menge Sandgelb und vor allem viel Weiß geradezu urlaubsfrisch auf. Scheinbar schludrige Linien, sorglose Farbflächen – im ganzen Band ist kein einziger gerader Strich, die Welt erscheint so gründlich verbogen wie das ganze Land nach zwölf Jahren selbstgewählter NS-Diktatur. Weshalb sich die Frage von selbst stellt: Wurden die Fehler 1945 gemacht? Oder nicht eher doch schon 1933?
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- 3. Apr.
Die Outtakes (26): Mit einem redefreudigen Kater auf Abwegen, einem Werbe-Bestschenker und Blutsaugern vom Lande

Übersehene Geschichte
Er macht es einem wieder einmal nicht leicht, der maxundmoritzbepreiste Joann Sfar: Der inzwischen fünfte Teil der „Katze des Rabbiners“ ist zwar zuverlässig munter und ansehnlich, aber zunehmend nutzt Sfar den kratzbürstigen Kater, um alle Themen abzuhandeln, die ihm so durch den Kopf gehen. In der ersten Hälfte ist das die Suche nach Gott und den Wundern, die ihn beweisen sollen, das wird dann schon sehr theoretisch. In Teil zwei stolpern wir hingegen in einen häufig übersehenen Teil der Geschichte: Nach dem ersten Weltkrieg wurden Teile der französischen Armee nicht in den Frieden entlassen, sondern gleich zur Bekämpfung der russischen Revolution weitergeschickt (und zur Eintreibung der russischen Auslandsschulden). Den barbarisch-blutigen Horror des russischen Revolutionschaos schildert Sfar bizarr, brachial, dämonisch gut, Literaturhinweise inklusive, so dass nicht nur historisch Interessierte was davon haben.
Vernünftiges von der Versicherung

Nach „Alex der Rabe“ folgt hier ein weiterer Blick in die Werbevergangenheit: „Max & Luzie“ entstand 1983-2002 im Auftrag der Allianz-Versicherung, in tadelloser „Knax“-Qualität – mit allen Vorzügen und Nachteilen. So merkt man durchweg Zeichner Franz Gerg sowie dem Autorentrio Monika Sattrasai/Doris Ertel-Zellner/Reinhold Zellner die Gewissenhaftigkeit und die Liebe zum Produkt an. Doch das Ergebnis ist hm, sehr vernünftig. Die optischen Vorbilder von „Asterix“ bis „Boule & Bill“ schimmern jederzeit auf, die Personenkonstellationen verschrecken weder Leser noch Investor, und der erklärende Textteil sorgt für allgemeines und vor allem erwachsenes Wohlwollen. Bis zu 500.000 Hefte druckte die Allianz, genug, dass sich „Max & Luzie“ offenbar ganzen Generationen ähnlich ins Kindheitsgedächtnis brannten wie das von den Sparkassen spendierte „Knax“. Was in beiden Fällen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Serien weder mit religiösem Eifer gesammelt wurden noch am Kiosk jemals konkurrenzfähig gewesen wären. Heißt: Nostalgische Erinnerungen machen den Lesespaß vermutlich größer und nicht zuletzt auch wahrscheinlicher.
Cousine mit Biss

Grusel-Comedy auf dem Level von „Tanz der Vampire“ ist schwer und selten. Daran ändert auch „Vampircousinen“ von Alexandre Fontaine Rousseau und Zeichnerin Cathon nichts. Die geschwätzige Camillia wird von ihrer Cousine Friederike ins Schloss ihrer Jugend eingeladen. Untern im Dorf reden alle finster über das Schloss, im Supermarkt gibt’s nur Knoblauch, aber Camillia glaubt nicht an Vampire – obwohl doch gerade eben jene Friederike (und da kommen Sie nie in diesem und auch nicht im nächsten Leben drauf) selber ein Vampir ist! Ausgerechnet Friedrike! Potzblitz! Und weil man sich den Rest exakt genauso wenig denken kann, erwartet Sie jetzt also ein Füllhorn an Überraschungen oder ein müdes Schmunzelchhrrr.
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- 2. Feb.
Kniffliger Dauerbrenner mit Abnutzungsgefahr: Fünf aktuelle Comics widmen sich dem Nationalsozialismus – nicht alle überzeugen

So, das Thema „Nationalsozialismus“ war in diesem Jahr im Unterricht noch gar nicht dran. Was nicht hilfreich ist, wie jüngst gerade viele junge Menschen so nachdrücklich wie zutreffend bemängeln. Ein Tadel, der zur Rechten-Zeit zur rechten Zeit kommt, zur doppelt rechten Zeit obendrein, weil sich momentan eine ganze Menge Comics mit dem Thema befassen. Fünf Stück haben sich inzwischen angesammelt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in der ganzen Bandbreite von erhellend bis ermüdend.
Rechter Schlächter

„Klaus Barbie“ ist ein eindeutiger Fall von „zu dicht dran“. Der SS-Mann war der „Schlächter von Lyon“, setzte sich nach dem Krieg ab nach Südamerika und verhökerte seine bei der Gestapo erworbenen Folterkenntnisse an die USA und diverse südamerikanische Diktaturen. Und zwar gegen Geld und Schutz vor Auslieferung.
So konnte er – obwohl in Frankreich bereits zum Tode verurteilt – auch mäßig gut getarnt bis 1983 untertauchen. Es ist also alles drin, in der Story: Naziverbrechen, Geheimdienstscheiß, Suche und Auslieferung, wie gemacht zum Sich-Verheddern, und das tun Frédéric Brrémaud und Jean-Claude Bauer denn auch. Es wäre schon schwer genug, chronologisch einleuchtend zu erzählen, wie Barbie abwechselnd vor den Amerikanern floh und für sie arbeitete oder wie seine Auslieferung eingefädelt wurde. Doch Bauer/Brrémaud verlieren sich in Details wie der Bombardierung des Gestapo-Hauptquartiers in Lyon. Bei Erschießungen müssen sie alle Opfer aufzählen oder wer es beobachtet oder wer die Leichen danach identifizierte. Und weil das Promi-Nazijäger-Paar Klarsfeld Barbie entdeckte, kommt deren Story auch noch rein. Bauers standbildhafte Regie tut ein Übriges, bis dann der finale Barbie-Prozess (den er als Zeitzeuge begleitete) in einer Flut konventioneller Porträts untergeht wie die Titanic. Und all das könnte man beiden noch nachsehen, käme man der Figur Barbie dabei auch nur einen Hauch näher. Aber genau hier, wo Comics glänzen können, weil sie eben nicht darauf beschränkt sind, was man abfotografieren könnte – hier enden die Fähigkeiten von Bauer/Brrémaud. „Klaus Barbie“ bleibt eine quälend ungeschickt erzählte Reportage mit statischen Bildern.
Die Sache mit dem Widerstand

Schwach und stark zugleich: „Widerstand“ von Niels Schröder ist, rein comictechnisch unattraktiv. Schröder schildert die Biografien der SPD-Größen Julius Leber, Theodor Haubach und Tony Sender ohne Rücksicht aufs Bild. Texte, Zitate, Gedanken presst er ungekürzt in kinderfaustgroße Sprechblasen, unablässig denkt jemand, was besser erzählt oder gezeigt werden sollte. Mildernder Umstand: Berlins Kultursenator, der Kulturbeauftragte der Bundesregierung und die Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand fördern das Ganze und strahlen vermutlich, weil die Textblöcke so schön über die Comicelemente (viele Porträts plus Stadtansichten) hinwegtrösten. Soweit so schlimm, aber die Themenauswahl ist trotzdem gut.
Denn das Thema Widerstand, gerade um 1933, als man noch vieles hätte verhindern können, birgt eine Menge Unbekanntes. Ja, ich hatte schon vom „Reichsbanner“ gehört, aber genau wusste ich nicht, dass dahinter eine SPD-nahe Kampftruppe in Millionenstärke steckte, ebenfalls aus alten Frontsoldaten, die mindestens so gut prügelte wie die Nazis – aber eben für die Demokratie. Besonders interessant: Dass die Partei die Millionen nur deshalb nicht zum Kampf rief, weil Hitler irgendwie rechtskonform an die Macht kam. Was nicht nur das Verbot der AfD umso dringlicher scheinen lässt, sondern auch die verzagte Debatte darüber umso besorgniserregender. Weil Schröder nämlich auch zeigt: Wenn Figuren wie die Nazis erst mal an der Macht sind, läuft der Kampf richtig scheiße, selbst für weltkriegserprobte Kämpfer wie Leber und Haubach. Wie Verbotsgegner Olaf Scholz sich dann schlagen würde, mag man sich gar nicht erst vorstellen.
Weshalb der Comic trotz der mäßigen Aufbereitung in mein Regal kommt.
Hinz und Kunz und Frantisek
Es geht immer noch komplizierter: „Anthropoid“ von Zdenek Lezák und Michal Kocián hat sich das Attentat von 1942 auf den SS-„Star“ Reinhard Heydrich in Prag orgenommen. Und wenn sich schon bei Klaus Barbie die Autoren verheddert haben, dann regiert bei diesem Duo überhaupt nur noch heillose Überforderung. Dutzendweise werden Exil-Tschechen aus England über ihrer Heimat abgeworfen, vorgestellt, verhaftet, spätestens auf Seite acht hat man jeglichen Überblick verloren, wer sich denn nun von wo nach durchschlagen muss, was er da tun soll, wen er trifft und warum nicht. Zumal auch das Gesicht von Hinz aussieht wie das von Kunz und Frantisek, denn zeichnerisch herrscht solides Mittelmaß. Konsequenterweise finden sich im Anhang nochmal die Biografien der in die knapp 100 Seiten gepressten 39 (!) Charaktere – als gingen nicht einmal die Autoren selbst davon aus, dass der Comic das Thema erklären könnte. So überzeugen letztlich nur die Szenen der Planung in Prag, der Auswahl des Anschlagsorts sowie das Attentat selbst. Wenn man sich gleich auf diese Stärken konzentriert hätte, wäre es womöglich ein fesselnder Band geworden.
Gute Nummer

Zweifellos mehr versprechend ist „Adieu, Birkenau“. Zumal hinter der realen Geschichte der KZ-Überlebenden Ginette Kolinka jener JD Morvan steckt, der gerade erst für „Madeleine, die Widerständige“ ein sehr überzeugendes Szenario geliefert hat. Und der auch hier grandios anfängt: „Als ich ein Kind war, dachte ich, alle Mamas hätten eine Nummer auf dem Arm.“ Gut, oder?
Und Morvan zaubert tatsächlich weiter, mit allem, was er hat: Rückblenden, Überblendungen, die heute 100-Jährige beim Appell im KZ und im Yoga-Kurs. Er begleitet sie auf einer ihrer Schulführungen über das Gelände von Auschwitz, er lässt die Geister der Toten schattengleich neben ihr gehen, stellt naive Schülerfragen, gibt brettharte Antworten. Und erinnert dabei zunehmend an Barbara Yelin, die in „Emmie Arbel“ so großartig wie vergeblich gegen Routine und Zeitgeist anzeichnet. Denn wer nur ein bisschen im Thema ist, ahnt sofort, was von der Handlung zu erwarten ist: Glückliche Kindheit vorher, Rechteverlust, Zugtransport/Viehwaggons, das Entsetzen des KZ, die Verrohung. Der Moment der Enthüllung des Massenmords. Es ist bitter, aber je nach Umfang der eigenen Holocaust-Leseerfahrung schwankt der Schock zwischen frisch und abgenützt. Weshalb „Adieu, Birkenau“ für aufklärungswillige Schülervertretungen zwar absolut empfehlenswert ist. Aber dennoch muss man sich darüber im Klaren sein, dass man die 30 Prozent abgestumpfter Sachsen und Thüringer anders erreichen muss, die kein Problem haben, schon wieder ihre künftige Mittäterschaft in die Wege zu leiten.
Mit-Arbeiter von einst und morgen

Ehrlich: Ich hatte erst NULL Lust auf Hannah Brinkmanns „Zeit heilt keine Wunden“. Wegen der Optik, Dunstnote „pädagogisch wertvoll“. Und dann die Story: Erinnerungen des jüdischen Kommunisten Ernst Grube. Puh. Immerhin: der Blickwinkel von Brinkmann/Grube ist eher selten.
Denn: Nur Mama Grube ist Jüdin, Papa nicht. Und weil die Nazis fein erkannten, dass „Arier“ Angehörige weniger entspannt ans Messer liefern als Nachbarn, waren Mutter Grube und ihre drei Kinder vor Deportation geschützt, zunächst. Erster geschickter Zug von Brinkmann: Wie sie diese Lage zwischen Hoffen und Bangen zuspitzt, die Strohhalme „Wird schon nicht so schlimm kommen“ und „Es gibt doch Gesetze“ so erbarmungslos stutzt wie die Nazis selbst (denn zum Schluss wird natürlich doch deportiert). Spätestens hier kam ich mit Brinkmanns Stil klar. Weil sie a) immer wieder eigenwillig die Gefühlslage illustriert, und weil sie mir b) immer wieder den Kleingeist der Nazi-Anordnungen vorführt: Ob man Jude war, hing auch vom Geburtsdatum (!) ab. Schon in der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz machten damit die Nazis selbst die Irrationalität des Rassismus amtlich – das war mir neu, herzlichen Dank. Und dann macht Hannah Brinkmann etwas komplett Unerwartetes...

Brinkmann lässt Grube links liegen und widmet sich dem Richter Kurt Weber, der Grube später in der Bundesrepublik verurteilen wird. Weber ist ein brillantes Beispiel für Millionen Deutsche, deren Verhalten die Diktatur erst ermöglichte. Jurist Weber könnte mit seiner jüdischen Verlobten das Land verlassen. Aber er hat sooo viel ins Studium investiert. Also bleibt er, steigt im Staatsdienst auf, tut irgendwie unpolitisch und beruhigt sich, weil er nicht ganz so viele Leute hinrichtet, wie die Nazis wünschen.
Was Brinkmanns Graphic Novel so wertvoll macht: sie begreift Potential und Notwendigkeit des Mittäter-Porträts und gibt ihm viel Platz. Wer wissen will, wieviel Mitarbeit autoritäre Regime verlangen (werden): Brinkmann führt es vor, schlüssig und mit einfühlsamem Unverständnis. Genau der richtige Comic zur richtigen Zeit!