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Comicverfuehrer

Gewöhnung statt Empörung: bei andauernden Ungerechtigkeiten stumpft man irgendwann ab. Drei Graphic Novels entfachen jetzt die Wut neu – durch die Kinderperspektive


Geht es nur mir so oder wächst einem tatsächlich eine emotionale Hornhaut gegen den ganzen entsetzlichen Mist auf der Welt? Gegen den Nahostkonflikt etwa, oder gegen Donald Trump, oder die Autoindustrie? Ich frage deshalb, weil jetzt innerhalb weniger Tage gleich drei Graphic Novels bei mir durch solche Hornhäute gedrungen sind, und alle drei haben etwas gemeinsam: die Kinderperspektive.


Kanadas entsetzliches Internats-Programm

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Illustration: Joe Sacco - Edition Moderne

Nummer eins ist der neue Band von Joe Sacco, dem Comic-Journalisten: In „Wir gehören dem Land“ widmet er sich einer kanadischen First Nation, den Dene, die zwischen Rohstoffabbau, Industrie und eigener Tradition zerrieben werden. Sacco macht, was er immer tut: Er hört allen zu, lässt alle zu Wort kommen und verdichtet seine Recherche zu Bildern – allerdings ist ihm das diesmal ein wenig ausufernd geraten. Doch ein extrem starker Abschnitt schafft’s durch die Hornhaut: der über das kanadische Internatsprogramm. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 zwang Kanada die Kinder der Ureinwohner in einer Art staatlichem Kidnapping in erzchristlich geführte Internate, verbot ihnen die eigene Sprache, damit sie tadellose Musterkanadier würden. Diese Kinder verlernten ihre antrainierten Fähigkeiten für das Leben in den Waldregionen, sie waren bei ihrer Rückkehr für ihre Familien keine vollwertigen Mitglieder mehr, sondern ungeschickte, stammelnde Tölpel, und vollwertige Kanadier waren sie am Ende natürlich auch nicht. Sie erlebten Gewalt, unterdrückten sich in den Internaten gegenseitig, und ein Großteil von ihnen war anschließend nur in einer Disziplin allseits anerkannt: Alkoholismus. Wenn man das liest, geht einem das Messer in der Tasche auf.


Aus der Hölle in die neue Heimat

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Illustration: Jessica Bab Bonde/Peter Bergting - Cross Cult

Band zwei kümmert sich um ein Thema, zu dem man gerade in Deutschland leicht mal abstumpft: der Holocaust, verständlicherweise hierzulande besonders oft behandelt, leider auch meist besonders vorhersehbar. Auch „Bald sind wir wieder zu Hause“ erfindet das Rad nicht neu, folgt aber geschickt der Erkenntnis, dass weniger mehr sein kann: Auf unter 100 Seiten lassen Jessica Bab Bonde und Zeichner Peter Bergting sechs jüdische Zeitzeugen erzählen, die den Holocaust als Kinder erlebten und nach dem Krieg Zuflucht in Schweden fanden.


Die Texte sind knapp, nüchtern, sie schildern einfach nur die Beobachtungen der fassungslosen, schockbetäubten Kinder. Und plötzlich bekommen alle Mechanismen, die man schon zigmal gehört hat, wieder Bedeutung: Tolek aus Lodz muss mit seiner Familie ins Ghetto ziehen, sechs Menschen in drei Zimmern – das sind extrem verschärfte Corona-Bedingungen für immer, bei gleichzeitigem Essensentzug vor dem anschließenden Abtransport nach Auschwitz. Den illustriert Bergting auch mit dem Spalt in der hölzernen Waggonwand, durch den Tolek Frischluft bekommt.


Ähnliche Vorgänge, immer neue Erzählwege


Livia lebt in Rumänien, entdeckt per Radio die Welt so wie wir heute per Internet, und wird samt ihrer Stadt 1940 Ungarn zugeschlagen, wo der Holocaust besonders spät und dafür besonders gründlich einsetzt. Feinfühlig finden Bergting/Bonde für vergleichbare Vorgänge immer wieder neue Erzählwege, Text und Bild ergänzen sich geschickt. In Livias Geschichte zeigen sie beispielsweise die Selektion nicht, nur den Bahnhof, weil: „Alles geschah so schnell, als ich mich umdrehte, waren die Männer schon weg.“ Einer der Männer war Livias Vater. Ich habe, nicht nur berufsbedingt, einiges zum Thema gelesen, und ich habe reichlich Holocaust-Hornhaut, aber mehr als zwei Kapitel am Tag habe ich nicht geschafft. Der Band wendet sich übrigens gezielt an junge Leser, es gibt ein Glossar hinten, eine Landkarte mit den Orten der Handlung – dennoch wird hier weder für Kinder entschärft noch vereinfacht.


Empörende Gleichgültigkeit


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Bild: Esther Shakine - Klinkhardt & Biermann

Dazu passt: Esther Shakines „Exodus“, ein knapp 50seitiger Band, der Shakines Schicksal als Geschichte der kleinen Ticka erzählt. Auch Shakine schildert extrem zurückhaltend, was die Wirkung verstärkt. Tickas Eltern etwa verstecken ihr Kind im Schrank, und als Ticka sich wieder herauswagt, sind die Eltern nicht mehr da (und werden auch nie wieder auftauchen). Die Nachbarn schauen unterdes durch den Türspion und öffnen dem klingelnden Mädchen nicht, die Wohnung wird sich schnell jemand unter den Nagel reißen. Kein Einzelfall, auch im Bergting/Bonde-Band sind immer wieder Episoden, wie Mitbürger die Verfolgung für den eigenen Vorteil nutzen, und all das macht endlich mal wieder so wütend, wie es eigentlich ständig nötig wäre.

Bevor jetzt aber die nächsten 20 Bücher auf die Kinderperspektive setzen: Man wird sich auch wieder was Neues einfallen lassen müssen. Sie wissen schon, wegen der emotionalen Hornhaut.



Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.


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Vom Nachahmer überholt: Mit „The End“ und „Mechanica Caelestium“ hängen sich zwei Graphic Novels an bestehende Megatrends – und schlagen die Originale um Längen


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Heute mal was Schönes aus dem Bereich MeToo. Nein, nicht das MeToo mit den Frauen, sondern das Marketing-MeToo: Also, wenn sich einer an einen bestehenden Trend hängt oder einen Erfolg kopiert. Meist ist das ein billiger, gelegentlich ein teurer Abklatsch, und man kehrt reumütig zum Original zurück. Manchmal kommt aber Besseres dabei raus. Zwei dieser Glücksgriffe hat gerade Schreiber und Leser gemacht. Gut möglich, dass was für Sie dabei ist, weil: Es handelt sich um Megatrends, die Sie kennen und wahrscheinlich sogar mögen.



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Nummer Eins ist für Wohlleben-Fans. Jawohl, der Waldflüsterer. Einer seiner Leser heißt Philippe Chapuis, ist Schweizer und zeichnet unter dem Pseudonym Zep Comics. Zep hat sich „Das geheime Leben der Bäume“ vorgenommen, aber daraus keinen Sachcomic gemacht, sondern einen Ökothriller. Ein junger Praktikant kommt ins Forschungslabor eines Baumforschers. Der Prof hört rund um die Uhr das erste Album der Doors und ist auch sonst reichlich verschroben, zum Beispiel glaubt er, dass alle Bäume miteinander reden und Dinge tun, die Wohllesern arg bekannt vorkommen. Weshalb man Zep vorwerfen könnte, dass er sich einfach ins gemachte Nest setzt. Aber: Zep sitzt nicht einfach, sondern sehr geschickt.


Er hat vor allem die Hauptfalle erkannt: Wohlleben überzustrapazieren. Der Baum-Buddy ist bislang der Irren-Schublade entgangen – das kann aber schnell kippen. Also macht Zep keinen Fancomic. Hauptfigur ist nicht der Professor, sondern der junge Zweifler. Der Prof ist auch noch verschroben, damit Zweifler wie Lesenden die Zustimmung schwerer fällt. Und Zep füllt im rechten Moment die Wohlleben-Thesen passend ab: dreifach konzentriert wie Tomatenmark. So wie Frank Schätzing im „Schwarm“ oder Roland Emmerich im „Day After Tomorrow“. Ergebnis: erst unterhaltsamer Radau, danach die gewünschte Nachdenklichkeit. Versuchen tun sowas viele, hinkriegen nur wenige. Hut ab!


Das gelungene Beispiel Nr. 2, Merwan Chabanes „Mechanica Caelestium“, wildert in der „Tribute von Panem“-Ecke: Hat man jetzt öfter, dass irgendwelche Gesellschaften der Zukunft Jugendliche gegeneinander kämpfen lassen. In diesem Fall sind wir in einer kaputten Welt, in der die HiTech-Macht Fortuna die kleine Reis-Region Pan unterjochen will. Die Gemeinde von Pan fordert aber ein Urteil der „Mechanica Caelestium“: Man regelt den Streit in einer Art Völkerballspiel. Warum sich eine Supermacht darauf einlässt weiß kein Mensch, aber auch die „Tribute“ funktionieren ja nur durch die grandiose Jennifer Lawrence, der man sogar den blühendsten Quatsch abnimmt. Merwans Jennifer heißt: Aster.


Aster ist 17, frech, vorlaut, mit einem Fuchsschwanz am Knackarsch. Aster ist mutig, traut sich, aus rostenden Panzern mit Skeletten drin die verkäuflichen Granaten zu klauben. Der dürre Wallis mit seiner Schlappohrmütze ist in sie verknallt, aber irgendwie kommt Aster grade gut ohne Jungs klar. Aster ist wie aus dem Fundus von Luc Besson, wenn man die passende Action dazu liefern kann. Und hier kommt Merwan ins Spiel.


Ich habe schon lang keine Comicfigur derart auf den Seiten explodieren sehen wie Aster. Weil Merwan weiß, was er zeigen soll, wenn beispielsweise ein Mädchen einen Ball wirft. Ihre grimmige Entschlossenheit beim Ausholen, und dann sofort den Moment, in dem sie schon geworfen hat: Asters verdrehter Körper schwingt aus, der Ball ist längst zehn Meter aus dem Comic rausgeflogen, übrig bleibt ein perfekt eingefangener Augenblick aus Physik und Bio und Energie und Wut. Aster fängt, Aster weicht aus, rasant geschnitten, das erinnert manchmal an Mangas, ist aber um Klassen eleganter: Merwan braucht die penetranten Zoomlinien nicht, ihm reicht der richtige Bildausschnitt und etwas Staub.


Überhaupt: die Bilder. Grandiose Landschaften, blassbunt, als Aquarell oder getuscht. Viel Zeit: Aster kriegt fünf Panels zum Aufwachen, zehn Panels für Frühstück und Katzenwäsche, zehn weitere zum Anziehen, komplett wortlos, das Bild sagt alles. Es gibt zauberhafte kleine Momente, in denen Wallis die schlafende Aster anhimmelt. Der lakonische Humor: Aster und Wallis fliehen vor einem Bär auf ein Windrad, und dann steht unten der Bär in seiner ganzen Ratlosigkeit und kriegt einen winzigen Stein an die Rübe: „Poc“.


All das serviert Merwan immer wieder mit sanfter Slapstick-Attitüde: Entspanntere Actionmomente zeigen seine Figuren zwar auf der Flucht, aber grotesk hüpfend in der Flugphase. Wenn nicht alles täuscht, zitiert Merwan klassische Vorbilder: Aster verbreitet das unschuldige Chaos von „Little Nemo“ – mit dem Wumms von Ignatz Mouse. Die englische Ausgabe zieht Konsequenzen aus dem Wundermädel: Da heißt „Mechanica Caelestium“ einfach „Aster of Pan“. Und womit?

Mit Recht.



Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.




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Unbehagliche Geschichten aus unserer Gegenwart, Zumutungen ganz nahe an der Realität: die verstörend normale Unheimlichkeit des Lukas Jüliger


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Illustration: Lukas Jüliger - Reprodukt

Ist nicht leicht mit Lukas Jüliger. Oder sagen wir’s so: Das Herz geht einem nicht auf. Andererseits hab ich jetzt zwei Graphic Novels von ihm in einem Sitz runtergelesen, ging ganz einfach, man quält sich nicht, im Gegenteil. Wenn ich ihn daher mit jemandem vergleichen sollte, ich nähme: David Cronenberg. Tolle Filme, aber trotzdem hat man hinterher den Eindruck, man bräuchte vielleicht doch erst mal einen Schnaps.


Eingängig, aber nicht leichtverdaulich


„Unfollow“ heißt Jüligers neueste Band, der Verlag nennt’s Fabel, aber für eine Fabel ist’s nicht eindeutig genug, obwohl man genau das lange erwartet. Jüliger erzählt die Geschichte eines Erd- oder Gottwesens: Etwas, das die Erde mindestens seit ihrer Entstehung begleitet und jetzt in den Körper eines Jungen schlüpft.


Der Junge ist ein bisschen wunderlich, riecht gern an verwesendem Fleisch, kommt denn auch in diverse Heilanstalten. Irgendwann bricht er aus, klaut sich ein Solarpanel und einen Laptop, verkriecht sich in einem Naturpark und sendet da aus dem Gebüsch nachhaltige Naturweisheiten. Er wird ein Internetphänomen, ein Öko-Influencer, der dann mit Werbeeinnahmen (für ganz liebe Produkte!) anfängt, besonders umweltschonende Pilze und Algen zu entwickeln, von denen die Menschheit ordentlich leben kann.


Die Follower-Perspektive erlaubt Naivität


Er trifft eine andere Influencerin/Programmiererin, hat ein bisschen Sex mit ihr und das Powercouple eröffnet eine Kommune, lädt Promis ein und macht die Ökoschiene zum Supertrend. Klingt alles etwas zu naiv, zu glatt, zu geleckt, aber Jüliger erzählt all das aus der Perspektive der Jünger des Erdbuben, die ihn in der Anstalt kennengelernt haben. Ein schöner, simpler Kniff, sofort hat man etwas Distanz und das cronenbergsche Gefühl, dass das alles nicht gut ausgehen kann. Was doppelt unbehaglich ist, weil ja zugleich die Analyse der Begrenztheit der Welt und ihrer Ressourcen durchaus zutrifft und Umweltspar-Pilze immerhin einen Ausweg andeuten.


Auch schön zweideutig: Jüligers Zeichenstil. Sanft, kleinteilig, zutraulich, auf keinen Fall verschreckend. Das Unbehagen erreicht er durch viele gut platzierte Kleinigkeiten. Sein Erzähltempo ist präzise, gleichmäßig und gibt so der Geschichte etwas Unvermeidbares, Unaufhaltsames. Praktisch ohne Action, Standbild folgt auf Standbild, Close-ups, Totale und immer wieder die Draufsicht, stets gleich von oben rechts nach unten links, wie es Maschinen liefern. Es ist, als blättere man durch das Fotoalbum einer vergangenen Katastrophe. Kalte Blau-Rot-Kolorierungen machen die Szenerie obendrein zuverlässig ungemütlich. Jetzt einen Himbeergeist. Vor allem, wenn man, wie ich, vorher gerade seinen Erstling „Vakuum“ gelesen hat.


Wie das Fotoalbum einer vergangenen Katastrophe


Eine merkwürdige Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen, altersgemäß durchzogen von schwer bestimmbarer Unzufriedenheit, Verlorenheit und Geheimnissen. Das Mädchen etwa springt jedes Mal, wenn’s ein wenig intimer werden könnte, auf und davon zu einem supergeheimen Date. Das supergeheime Date entpuppt sich als ein Wohnwagen mitten im Wald, in dem sich etwas befindet, das wie ein gigantischer, glatter Anus wirkt.


Wer ihn streichelt, fühlt sich gut. Das Ganze ist ästhetisch gezeichnet und eben deshalb in seiner Absurdität von erstaunlich abstoßender Faszination, wie die gynäkologischen Instrumente in Cronenbergs „Unzertrennlichen“. Auch das macht Jüligers Novels so genießbar, obwohl er eben kein Spektakel bietet: Er weiß, wie man schwer Zumutbares erträglich macht, über welche Hürden man den Lesenden hinweghelfen muss – aber auch, wie man völlig normalen Bildern eine verstörende zweite Ebene verleiht. Eines der stärksten Panels für mich in „Vakuum“ ist ein ganzseitiger Parkplatz bei Nacht, leer, in der Draufsicht, mit gleichmäßig verteilten Laternen auf hohen Masten. Das ergibt regelmäßige Lichtkreise auf dem dunklen Asphalt, mehr nicht, und doch weiß ich: Ich möchte nicht auf diesem Parkplatz sein.


Creepy Zeug auf der Homepage


Wer auf Jüligers Homepage surft, findet noch eine Menge Zeug, dass man „creepy“ nennen könnte, obwohl es auch zart besaiteten Seelen schwer fallen dürfte, herauszufinden, was exakt man dem 32-Jährigen vorwerfen möchte. Liegt wohl an der unschuldigen Offenheit, mit der er den Blick in allerlei Abgründe eröffnet. Die erinnert dann auch nicht nur an Cronenberg, sondern an einen gewissen Charles Burns, der hier auch schon gelobt wurde.

Jüliger könnte in schlechterer Gesellschaft sein.

Und jetzt noch einen Himbeergeist.


Lukas Jüliger, Vakuum, Reprodukt, 20 Euro

Lukas Jüliger, Unfollow, Reprodukt, 18 Euro

www.lukasjueliger.com


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