- 25. Jan. 2023
Skandalfreie Meisterleistung: „Nationalfeiertag“ zeigt Frankreich als ein vom Terror verängstigtes Land – und den Comic-Star Bastien Vivès von seinen besten Seiten

Es gibt Neues von Bastien Vives! Und damit sind nicht die unschönen Vorwürfe gemeint, die ihn vor kurzem in den Ruch des Bad Boy brachten: „Nationalfeiertag“ hat wenig bis nichts mit Sex zu tun. Der Comic zeigt stattdessen, was an der Kunst des 38-jährigen Franzosen so großartig ist – und warum man es mit seinen Geschichten dennoch meist nicht leicht hat.
Die Grande Nation nach Nizza und Bataclan
„Nationalfeiertag“ hat Vivès zusammen mit dem Szenaristen Martin Quenehen entwickelt. Was zunächst wirkt wie ein Regionalkrimi, entpuppt sich als spannende Analyse eines verunsicherten Landes: Wir sind in einem französischen Bergdorf, wo der junge Polizist Jimmy gerade seinen Vater beerdigt. Woran der starb, weiß man nicht, aber Jimmy macht sich Vorwürfe. Es könnte damit zusammenhängen, dass wir im Frankreich nach den Terroranschlägen vom November 2015 sind, nach dem Anschlag von Nizza 2016. Die Polizei ist dauernervös, und Jimmy besonders. Er kann nicht abschalten, nicht schlafen.
Als der Maler Vincent mit seiner jungen Tochter in die Stadt zieht, beobachtet Jimmy ihn – nicht zuletzt, weil er erfahren hat, dass Vincent gerade seine Frau bei einem Attentat verloren hat. Jimmy beschattet Vincent , als der eines Nachts in einer Migranten-Siedlung eine Bombe legen will. Er entschärft die Bombe und redet Vincent ins Gewissen. Was man da noch nicht ahnt: Jimmy ist selbst migrationsskeptisch…
Die Magie des besten Moments
Es sind vor allem zwei Dinge, die diesen Comic so gut machen: Erstens natürlich die Bilder. Vivès zeichnet zuverlässig mit minimalem Aufwand. Wunderschöne Ortsansichten, Berge, Marktplätze im Sonnenlicht. Grandiose Porträts in punktgenauen Posen. Das Panel eines Comics zeigt ja immer nur einen Moment einer Bewegung, weshalb die Qualität des Bildes nicht nur davon abhängt, ob einer zeichnen kann, sondern auch davon, welchen Moment er wählt. Im Herausfiltern des effektvollsten Augenblicks, der authentischsten, typischsten Mimik, Gesten, Haltungen, da findet sich derzeit schwer jemand, der besser ist.

Sein reduzierter Stil unterstützt diese Stärke: Ein paar Linien, ein paar Flächen, und blitzschnell ist alles da und zugleich nur angedeutet, so dass der Betrachter unwillkürlich seine eigenen Erfahrungen anzapft. Vivès arbeitet dabei (wie schon öfter) nur mit Schwarz-Weiß und Grautönen, und was er mit diesem Mini-Material an sommerlichen oder nächtlichen Lichteffekten fabriziert, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Wer schon mal Urlaub in der französischen Provinz gemacht hat, findet ständig angenehme Erinnerungen und kriegt Lust auf Rotwein und Baguette mit Camembert.
Blockbuster-Elemente im Regionalambiente
Nicht zu vergessen: Action kann Vivès auch. Schießereien, Explosionen, Stürze, Motorräder, Verfolgungsjagden, Vivès macht aus nichts großes Kino im Comicformat. Doch diesmal nutzt er sein Talent nicht zum Blockbuster-Entertainment wie etwa in der „Großen Odaliske“. Stattdessen erzählt er hier eine erwachsene, nachdenkliche Geschichte. Mit seiner zweiten Stärke: Der Fähigkeit, Geschichten nicht sauber aufzuräumen, sondern für Mehrdeutigkeiten zu öffnen.
Die Sympathie der Leser gehört hier natürlich dem jungen, eindeutig idealistischen Jimmy, aber zugleich auch die Skepsis, wohin dieser Idealismus führen kann. Denn Jimmy ist vom Kampf zwischen Rechts und Links und Religion genauso verstört wie die ganze Grande Nation, die sich beim Umgang mit ihren zahlreichen Migranten weder durch Ideen noch durch besonderes Engagement hervorgetan hat. Und die auch heute noch oft lieber rechts wählt, als den Karren aus dem Dreck zu ziehen, in den man ihn selbst hineingeritten hat.
Geschickt eingesetzte Mehrdeutigkeit
Eine Auflösung, was gegen Ende genau passiert, liefert Vivès nicht. Er gibt die Verunsicherung an die Leser weiter und lässt sie damit allein, eine Technik, die er öfter und gerne anwendet – und die ihre Risiken hat. Hier geht die Rechnung auf: Denn die Themen in „Nationalfeiertag“ lassen sich unbefangener diskutieren als die Themen jener Titel, die ihn im Dezember ins Gerede brachten.
- 23. Jan. 2023
Wie gut ist das Juniorformat der neunten Kunst ? Heute startet die gefürchtete Challenge 2023 mit der unerbittlichsten Prüferin von allen: Julia (11)

Sie erinnern sich? 2020 saß Julia mit fast neun Jahren gelangweilt im Corona-Lockdown - die ideale Zeit, um Comics zu testen. Heute ist Julia elf, nicht mehr in der Grundschule, sondern im Gymnasium. Comics liest sie immer noch, und es sind inzwischen auch ein paar Klassiker dazugekommen. Nach den Kindercomics hat sie im Rekordtempo alle Asterix-Bände weggelesen. Und ein paar Gaston-Alben, aber da hab ich nicht so viele. Was sie für die neue Runde 2023 zu einer deutlich erfahreneren Kritikerin macht...
Unter schwarzer Flagge: Zack!
Wir beginnen mit dem Band „Zack!“ von Volker Schmitt und Màriam Ben-Arab. Darin fährt die kleine Bonny mit ihrer Familie ans Meer. Dort folgt sie in der ersten Nacht einer einäugigen Katze, findet am Strand einen bewusstlosen Piraten, den sie mit einem Floß zu seinem Segelschiff zurückbringt, wo er die Kontrolle über seine meuternde Mannschaft zurückgewinnt. Dann kehrt sie zu ihrer Familie zurück.
Das ist schwungvoll gezeichnet, munter lesbar, aber mir geht alles eine Spur zu einfach. Bonny löst alle Probleme wie ein Ein-Mädchen-Tick-Trick-und-Track, es gibt keine richtigen Konflikte. Schmitt und Ben-Arab wollten eben ein Kind im (alten, nicht modernen!) Piratenumfeld, und so geschah es. Aber was mich stört, ist Julia egal. Zack wird in einem Rutsch durchgelesen. Ein bisschen irritiert Julia am Ende die Erzählzeit: Bonny war ganz schön lange weg. Als sie zurückkehrt, benehmen sich ihre Eltern, als wär’s nur über Nacht gewesen. Aber für einen Traum ist Bonny zu schmutzig, und sie schreibt Zack doch auch noch eine Flaschenpost, die der dann sogar liest, wie geht das zusammen?
Das Urteil bleibt zunächst aus, weil: Noch fehlt der Comic, mit dem Julia „Zack“ vergleichen könnte (siehe unten).
Die beste, weil lustigste Stelle: Das Boot mit dem ausgesetzten, bösen Piraten und seinem Papagei sinkt. Der Pirat jammert, dass er nicht schwimmen kann. Dem Papagei fällt ein: „Aber ich kann ja fliegen.“
Die niedlichste Stelle: Wie die einäugige Katze kotzt.
Boris, Babette und lauter Skelette

Dieses Haustier ist ein Traum: Babette, gelb, ein bisschen affen-und katzenhaft, schläft viel, kackt nicht, frisst wenig, kann sprechen – sowas hätte ich als Kind auch gern gehabt. Die Halterin muss aber zum Studienjahr nach England und schwatzt das Tier dem Nachbarsjungen Boris auf. Doch weil Babette die Gothic-Deathmetal-Deko der Vorbesitzerin gewöhnt ist, braucht sie jetzt auch bei Boris eine Schauder-Umgebung. Klar: Die Haustier-Problematik ist hier gar nicht so zentral. Es geht eher um Heimlichkeiten, ums Verstecken, das Reden mit den Eltern. Das allerdings in recht hübschen Varianten.
Julia liest auch „Babette“ gern durch. Aber die Bilder aus „Zack“ gefallen ihr besser. Was mich überrascht: Die Haustier-Problematik ist für sie eher zweitrangig, obwohl auch Julia gern einen Hund hätte. Entscheidend ist, ob die Geschichte lustig ist oder spannend, und ob sie und gute Wendungen hat. Dass Babette einen Sprachfehler hat und dem bösen Mitschüler Flo eine clevere Falle stellt ist also wichtiger als die Haustier-Lösung „Babette wohnt beim Opa und man kann sie immer besuchen“.
Die beste (weil lustigste) Stelle: Wie Boris mit seiner Mutter redet, die aber im Arbeitsstress ist und ihm lauter wirre Sachen sagt. Wie: „Vergiss nicht Abendbrot und komm zum Helmaufsetzen nach Hause!“
Die niedlichste Szene: Wie Babette aus Boris' Rucksack rausschaut.
Die erste Entscheidung
Nach Tag zwei stellt sich erstmals die Frage: Wenn Julia einen Comic an eine Freundin verschenken dürfte, welcher wäre es? Julia knobelt länger als erwartet und entscheidet dann:
1. Zack
2. Boris, Babette und lauter Skelette
P.S.
Ein kleiner Nachtrag: Tanja Eschs „Boris, Babette und lauter Skelette“ hat zur Frankfurter Buchmesse 2023 den Preis den Deutschen Jugendliteraturpreis abgeräumt. Kann man trotz dem Abschlussplatz 7 bei Julia absolut vertreten.
... wird natürlich fortgesetzt
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
- 21. Jan. 2023
Mit „Die alten Knacker“ und „Ins kalte Wasser“ versuchen sich zwei Comics am Thema „Alter“ – aber nur einer besteht die Reifeprüfung

Mit dem Altern ist das so eine Sache: Nichts daran ist schön, etliches daran macht Angst, und vermeiden kann man’s nur, indem man jung stirbt. Verdrängen ist eine Option, aber tatsächlich suchen wir nach Trost, Informationen oder auch nur dem Gefühl, mit dem Problem nicht alleine zu sein. Deshalb ist auch das Cover der Graphic Novel „Ins kalte Wasser“ so gut.

Es zeigt Yvonne, 80, allein, in einem Sessel sitzend, unter Wasser, und ihr Blick ist: beklommen. Denn Yvonne wird umziehen, ins Altersheim. Und der beklommene Blick sagt alles. Verlust an Autarkie, Verlust des alten Zuhauses, und all das nicht freiwillig, sondern weil einen diese beschissene Realität namens Körper dazu zwingt. Ein grandioses Cover. Aber so gut wie auf dem Cover wird der Comic von Séverine Vidal und Victor L. Pinel bis zum Schluss nicht mehr – weil beiden der Mut fehlt, die Geschichte ernst zu nehmen. Diese Angst beginnt schon bei ihrer Yvonne.
Die Titelheldin ist 80, ein bisschen moppelig, aber gut in Schuss, das sieht man daran, wie sie geht und steht: Sie braucht keinerlei Hilfe. Warum zieht sie also ins Heim? Einziger Schluss: Sie ist zieht bewusst früh ins Heim und könnte jetzt (mit dem Heim als Sicherheitsnetz) alles tun, was sie noch kann. Sie tut: nichts, fühlt sich bevormundet und rebelliert. Wogegen eigentlich?
Hauptproblem: Die Not ist un-nötig
Natürlich muss man nicht begeistert sein, wenn man mit anderen Alten Scrabble spielen soll. Und niemand muss die Therapiesitzungen oder die Gruppenbespaßung super finden. Aber Yvonne könnte stattdessen jederzeit einen Bus nehmen, ins Museum gehen, in den Zoo, ein Beet anlegen, irgendwas anderes machen. Yvonne ist fit und das Heim ist kein Knast.
Das Problem ist: Vidal/Pinel wollen von einer bitteren Zwangslage erzählen, wählten dazu aber leider eine völlig untaugliche Protagonistin. Ungeschicklichkeit? Möglich, aber wahrscheinlicher ist, dass ihnen der Mumm fehlte, der Leserschaft eine passend malade, unattraktive Yvonne zu vorzusetzen. Mit der hätte man dann womöglich auch den Abschnitt „Sex im Altersheim“ nicht mehr so einfach runtererzählen können.
Böse Heimleiterin aus der Klischeekiste
Anstelle einer brauchbaren Hauptfigur konstruiert „Ins kalte Wasser“ dann lieber ein Heim irgendwo zwischen „Sein letztes Rennen“ und „Einer flog über das Kuckucksnest“. Ein Heim, in dem nicht nur der oben erwähnte Sex superheimlich stattfinden muss, sondern auch die böse Heimleiterin die Bewohner zum Rapport bestellt, wenn sie abends auf dem Zimmer noch ein Glas Wein trinken und tanzen. Das ist denkbar in einem Heim, in dem das Personal sich um lauter schwerkranke, extrem Pflegebedürftige kümmern muss. Aber in Yvonnes Heim sind die Bewohner so aktiv, dass jede Leitung froh wäre, wenn die sich gegenseitig bei Laune halten. Sie sind so aktiv, dass Yvonne für ihre duften, superrüstigen Freunde einen munteren Ausflug organisieren kann.
Es bleibt der Eindruck, dass Vidal/Pinel eigentlich nur eine gefühlige Altersheimgeschichte stricken wollten, Motto: „Schön, dass wir mal über irgendsowas geredet haben.“ Tatsächlich ertränken Vidal und Pinel das brisante Thema derart in ihrer Sensibelsoße, dass Betroffene sich nicht ernst genommen fühlen und Interessierte einen völlig unzutreffenden Eindruck bekommen. Was auch deshalb so ärgerlich ist, weil andere ganz nebenbei zeigen, dass man mit dem Thema viel geschickter umgehen kann.
Wer nimmt das Thema ernst? Die Komiker
Seit meinem letzten Besuch bei den „Alten Knackern“ sind zwei weitere Bände der Serie von Wilfried Lupano und Paul Cauuet erschienen. Und obwohl auch diese beiden vom Cover her den furchtbarsten Klamauk befürchten lassen, setzen sie sich unter dem Comedy-Deckmantel ernsthafter mit dem Alter auseinander als Vidal/Pinel auf ihren 80 Seiten. Indem wir etwa dem Altrevoluzzer Pierrot begegnen, der so langsam pinkelt, dass ihm der Bewegungsmelder auf dem Kneipenklo fortwährend das Licht ausknipst.

Pierrot lebt auch in einer reichlich verwahrlosten Altmännerwohnung, es geht bei ihm und seinen Freunden Antoine und Mimile um verpasste Chancen, Sturheit, Versöhnung. Es geht um die blöde moderne Zeit, das verzweifelte Festhalten an alten Ritualen, es geht auch Umweltschutz und Demokratie, und das alles klappt deshalb, weil Pierrot, Antoine, Mimile noch in einem brauchbaren Zustand sind.
Und das ist exakt der von Yvonne.
