Manu Larcenets Comicumsetzung des dystopischen Bestsellers „Die Straße“: erbarmungslos, verstörend und alptraumhaft gut
Ich habe die Hölle gesehen, und gezeichnet hat sie Manu Larcenet. Man kann es wirklich nicht anders nennen, obwohl „Die Straße“ (nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy) natürlich auf furchtbare Art unterhaltsam ist. Aber man liest den Comic fassungslos, fühlt sich danach verstört, schockiert, auch deprimiert. Kann man sowas empfehlen?
Nein. Man muss.
„Resident Evil“, „Walking Dead“: alles Pipifax
Die Story ist denkbar einfach: Ein Vater wandert mit seinem Sohn durch eine zerstörte Welt, vermutlich in Amerika. Und „zerstört“ bedeutet in diesem Fall nicht die „Soylent Green“-Welt mit ihrem Rest an Zivilisation. Auch nicht die „Mad Max“-Welt mit ihrem noch kleineren, aber aufregend motorisierten Rest Zivilisation. Oder die attraktiv aufgemonsterte „Resident Evil“-Welt, nein, all das ist Pipifax.
Diese Welt ist unbewohnbar, es ist kalt und regnet Asche, und die „Walking Dead“-Gemeinde kann sich ihre Selbstversorger-Träume in die Haare schmieren: Hier wächst nichts mehr. Die Städte sind im Zustand von Deutschland ’45. Vater und Sohn wollen nach Süden, weil sie „noch einen Winter“ nicht überstehen werden und hoffen, im Süden sei es wohl wärmer. Und so ziehen sie los, in Lumpen gewickelt schieben sie irgendwas Einkaufswagenartiges durch den Schutt.
Das Essbarste: andere Leute
Welche Katastrophe das ausgelöst hat, ist so unklar wie der Zeitpunkt. Fest steht: Er muss einige Jahre zurückliegen. Denn es findet sich kaum noch Essbares, obwohl praktisch keine Menschen mehr unterwegs sind. Das Essbarste sind: andere Menschen. Und weil Vater und Sohn das nicht machen wollen, müssen sie von der Straße, sobald sie von ferne näherkommende Menschen sehen. Jeder Andere ist eine Bedrohung, selbst die Nicht-Kannibalen berauben sich gegenseitig – und es ist schwer zu sagen, was entsetzlicher ist: das komplette Fehlen von Mitgefühl oder das armselige Diebesgut in Form einer Lampe oder einer halbwegs wasserdichten Plane.
Action gibt es wenig. Womit auch? Vater und Sohn haben einen Revolver mit zwei Patronen, die Menschenfresser Messer, Latten, Keulen mit Nägeln, Schusswaffen sind rar (weshalb als Schauplatz die USA eigentlich ausscheiden). Konflikte löst man durch Verstecken und Davonlaufen. Der Gegner sind die anderen Menschen und die Welt, die so unbewohnbar ist, dass man die wenigen brauchbaren Verstecke schnell wieder verlassen muss, weil sie gerade wegen ihrer Brauchbarkeit binnen Kürze andere Menschen anziehen würden. Faustregel: „Man darf nicht an einem Ort bleiben.“
Beiläufiger Horror
Manu Larcenet, der schon „Brodecks Bericht" kongenial bebilderte, illustriert diesen hoffnungs- und ausweglosen Horror mit geschickter Beiläufigkeit. Die Spuren der Gewalt, des Todes, der wiederholten Plünderung bis zum letzten essbaren Krümel sind zwar allgegenwärtig, aber Larcenet erhöht ihre Wirkung mit einem simplen Trick: Er betont stattdessen die menschenfeindliche Umwelt, die ewige Dunkelheit und Kälte, bis das Auge selbst die abstoßendste Spur von Menschen beinahe erholsam findet. Farbe gibt es allenfalls in homöopathischen Dosen, und bei besonderen Anlässen: etwa einer Dose Cola.
Und dann, nach etwas über 150 entsetzlich guten Seiten? Man rätselt beeindruckt. Als feuchter Traum der Prepper-Szene taugt der Comic nicht, die angelegten Vorräte finden bestenfalls andere Überlebende und sind auch sonst viel zu attraktiv für tödliche Konkurrenz. Eine Öko-Mahnung? Weil der Mangel im Menschen nur das Schlimmste hervorbringt? Aber die Menschen reagieren ja schon jetzt heftig, wenn man nur ein Schnitzel weniger pro Woche andeutet. Und trotzdem: „Die Straße“ lässt einen unmöglich kalt. An der Lehre daraus knabbere ich selber noch:
Auf die Welt aufpassen?
Keine Leute töten?
Keine Leute essen?
Finden Sie's raus!
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Die Outtakes (16): Eine ansehnliche Familiengeschichte, ein finsterer Serienkiller und eine etwas zu gute Goldgräberin
Wiederholungstäter
True Crime-Nachschub aus der Mottenkiste: In den 2010er Jahren (als es noch gar nicht so schick war) verfasste Peer Meter gleich drei empfehlenswerte Szenarios über Serienmörder. Nämlich „Gift“ über die Bremerin Gesche Gottfried mit der (hier bleistiftgrau-sig guten) Barbara Yelin, „Haarmann“ über den gleichnamigen Männermörder (mit Isabel Kreitz), und zuletzt „Vasmers Bruder“ über den unbekanntesten der drei, Karl Denke. Letzteren Band habe ich gerade erst gelesen, der finsterste von allen, auch weil Meter die Geschichte hier in die Gegenwart verlängert und David von Bassewitz sie so zappendüster illustriert, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Zu den Outtakes muss sie leider dennoch, aus zweierlei Gründen: Erstens ist sie knapp zehn Jahre alt, zweitens nicht mehr lieferbar: Sie müssen ein bisschen bei Medimops, Rebuy, Booklooker oder auch in Ihrer Bibliothek stöbern, aber sparen dafür auch etwas Geld.
Zergrübelt
Sehr hübsche, zarte Zeichnungen. Sehr grüblerische Herangehensweise. Kerstin Wichmann blickt in „Auf schwankendem Boden“ schlaglichthaft in ihre Familiengeschichte. Aber so gut das aussieht, so rasch geht es in der eigenen Nachdenklichkeit unter. Was man erst an der Episode mit dem Großvater merkt: Der hat einen eigenwilligen Schwimmstil, und Wichmann lüftet geschickt das Rätsel darum. Aber genau dieses Geschick ist es, was meist fehlt. Und das ist ausgesprochen schade: Weil man so dankbar für jeden guten Grund wäre, noch mehr Zeit in den schönen Meer-Küste-Brandung-Ungemütlichkeit-Zeichnungen zu verbringen.
Holzgeschnitzte Wölfin
Sieht hübsch aus, ist frauenaffin, umweltbewusst – und trotzdem hebt Núria Tamarits „Die Polarwölfin“ nicht recht ab. Dabei sind die Zutaten reizvoll: Wir sind halbvermutlich in Nordamerika, zur Zeit des Goldrauschs. Die junge Joana investiert ihr letztes Geld, um an einer Goldgräber-Expedition teilzunehmen, aber die Männer lassen sie sitzen. Joana folgt ihnen auf eigene Faust. Die Männer sind überhaupt fies zu den Frauen der Expedition: zu Führerin Tala, zur alten Medizinfrau Opal. Männer sind auch schuld daran, dass Joana so am Hund ist, weil sie ihre alte Heimat abgefackelt und ihre Familie umgebracht haben. Und ein Mann ist schuld, dass Joanas dreibeiniger Hund so am Hund ist, weil er ihm die Pfote zertrümmert hat. Es sind auch die Männer, die beim Goldgraben bedenkenlos die Natur kaputtmachen, wohingegen die drei Frauen immer versuchen, nur das Nötigste aus der Natur zu nehmen. Weshalb sie auch von der gigantischen titelgebenden Polarwölfin verschont bleiben, die immer wieder für die Natur Rache nimmt, und, hm… liest sich das verärgert? Dabei nimmt man Tamarits Geschichte doch gern in der Hand: Die sternklaren Nächte, das eisige Alaska-Elend kontrastiert mit sonnenbunten Rückblenden ins Farmerparadies, die dämonische Wölfin, die flammenden Infernos, all das sieht einfach sehr gut aus. Aber die Haudrauf-Inhalte nerven. Wenn Joana so gut allein klarkommt, warum zog sie nicht gleich allein los? Und ja, Männer sind oft fies, aber dass ALLE Arschlöcher sind und zugleich auch noch Umweltsäue und ALLE Frauen vernünftig und auch noch nachhaltig, geht’s noch holzschnittartiger?
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Große Kunst aus kleinen Zutaten: Mikael Ross verquirlt Berliner Randgruppen in „Der verkehrte Himmel“ zu einem höllisch guten Blockbuster-Comic
BOAH!
Das. Ist. HEISSER. SCHEISS.
Absolute „Lola rennt“-Kategorie: ein Actionthrillercomedydrama, erzaubert aus total unglamourösen Zutaten. Extrem lustig, extrem spannend, zugleich thematisch so brandaktuell, dass eigentlich alle Alarmglocken scheppern. Weil all das so überehrgeizig klingt, dass es nur noch in die Hose gehen kann. Oder sogar muss! Aber dann kommt Mikael Ross mit „Der verkehrte Himmel“*.
Jonglieren mit acht Bällen
Ross ist noch immer kein sehr voll beschriebenes Blatt. „Der Umfall“ war exzellent, aber eine Auftragsarbeit mit vorgegebenem Thema. „Goldjunge“ widmete sich Beethovens Jugend, auch das gibt eine historische Struktur vor. „Der verkehrte Himmel“ hingegen ist komplett auf Ross‘ Mist gewachsen. Und das ist, als jongliere jemand erst mit zwei und auch drei Bällen, und jetzt schlagartig mit acht.
Ein Parkplatzmarkt. Tam und Dennis kaufen ein, Dennis ein überteuertes Metal-Shirt und ein Fleischerbeil, seine jüngere Schwester schrottige Inline-Skates, mit denen sie sofort gegen einen schwarzen Van knallt. Im Van: eine junge Frau, die nicht raus kann, aber Dennis das Beil durchs spaltoffene Schiebedach abkauft. Der Van fährt davon, zu einer Tankstelle. Ein Mann geht zur Kasse. Die Frau im Van zerschmettert die Heckscheibe, rast davon. Der Mann verfolgt sie. Schon diese Einstiegsszene ist richtig gut konstruiert: Slapstick (Tam lernt skaten), Sitcom-Dialoge (Bruder-Schwester, Geiz, der dämlich-schön-ulkige Beil-Deal), und alles kippt schlagartig zum Actionthriller.
Zappliger Riese als Blickfang
Und das, obwohl die Szene superstill beginnt: Durch die Augen der Frau sehen wir eine zapplige, luftbetriebene Werbe-Riesenfigur, immer in dem absurden Moment, in dem kurz der Luftstrom abreißt und die Figur grotesk zusammensackt. Die Actionsequenz dagegen: Bewegungen, die vor Energie strahlen, rasante Einstellungen, die geschickt das nutzen, was ein Panel leisten kann – etwa das Auge des Lesers unter dem Arm des Verfolgers hindurch auf die junge Frau zu lenken, die entfernt über einen Zaun klettert. Genau dieses geschickte Zusammenfassen und Verdichten macht diesen Comic so aberwitzig gut.
Was einen vor allem deshalb so unerwartet umhaut, weil die Themen so unsexy sind. Es geht, man ahnt es vielleicht, um Menschenhandel (Downer). Tam wird sich um die junge Frau kümmern, und um beide zusammenzubringen, wird Ross den Jungen Alex einführen, der Agent/Schauspieler werden will und alle mit seiner Drohne nervt (alleinerziehende Eltern, Schlüsselkind, Downer!). Die Ex-Schauspielerin Doris, die in einem Gartenhäuschen wohnt (Altersarmut, Alkoholismus, Downer!). Marina, die sensible Kickboxerin, die sich ausgerechnet in Dennis verliebt hat (Frau mit Problemen, Downer!). Die „Rollergirlz“, ein aufgekratztes Mädeltrio, von dem Tam gerne Skateunterricht hätte. Dennis pornosammelnder Freund Götz, die (real existierende Benennung der) Hans-Rosenthal-Schule (Holocaust, Downer), die Metalband „Slayer“ und Tams und Dennis Leben als Kinder vietnamesischer DDR-Einwanderer (Migration, Downer!). Das KANN doch einfach nicht funktionieren!
Ruppig deftig, prustend komisch
Aber Ross führt alles davon mit einer Leichtigkeit ein, dass einem der Kopf schwirrt. Indem er einfach das Berlin nimmt, das er vorfindet. Tam und Dennis sind nicht „Achtung! Achtung!“-Vietnamesen, sie sind’s einfach so wie andere Leute Linkshänder. Alles ist eigentlich extrem politisch – aber zugleich extrem unpolitisch konsumierbar. Selten war Schweres so leicht. Was auch daran liegt, dass Ross mit seinem Personal außergewöhnlich robust umspringt. Die Dialoge sind ruppig, deftig, gerade unter den Jugendlichen rücksichtslos, sehr häufig prustend komisch. Um im nächsten Moment zur härtesten, schnellsten, spannendsten und zugleich komischsten Verfolgungsjagd zu abzukippen, die ich von einem deutschen Comic-Zeichner kenne.
Am meisten verblüfft aber, wie viele Varianten der Comic-Kunst dieser Mikael Ross beherrscht – und wie gut, wie souverän, wie komplett er ist. Erstklassige schnelle, freche Dialoge, abwechslungsreiche Perspektiven, Situationskomik genauso wie Situationstragik, statische und mobile Körper-Beherrschung, Blickführung, Licht und Schatten, Charakterentwicklung, geschickte Nutzung von Haupt- und Nebenrollen. Gerade die Nebenrollen reichert Ross dabei mit unterhaltsamen Details derart an, als müsste er sie für Schauspieler attraktiv machen: Ross arbeitet hier wie ein echter Regisseur, aber zum Vorteil der Leser.
Realität vs. Happy End
Das Ende verrate ich natürlich nicht, auch wenn man ahnen kann: Für ein richtiges Happy End müsste Ross die Gegebenheiten verbiegen, und dazu ist ihm die Realität als Bezugsgröße zu wichtig. „Der verkehrte Himmel“ geht auch deshalb so nahe, weil alles darin sofort denk- und nachvollziehbar ist. Und wer prüfen will, ob Ross auch noch ein guter Vorleser ist, hat am Donnerstag um 19 Uhr in München die Chance dazu.
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Anmerkung zwecks Transparenz: Der Deutsche Literaturfonds (dessen Vorjury zu einem Fünftel aus mir besteht) hat (unter anderen) diesen Band gefördert. Doch anders als etwa bei Buchpreisen sehen wir bei der Entscheidung kein fertiges Produkt, sondern nur einen Entwurf.