- 10. März 2024
Ausflug in die Vergangenheit? Bildstarker Ägäis-Urlaub? Judith Vanistendaels Coming-of-age-Comic „Atan von den Kykladen“ vereint beides

Manchmal ist weniger mehr: Eine schlichte Geschichte über einen schlichten Jungen, der schlicht erwachsen wird. In einer vergleichsweise schlichten Welt: Griechenland, vor viereinhalbtausend Jahren. Und nein, es führt grade mal keiner Krieg, es wird auch nicht mythisch-mystisch. Eigentlich wird nur getöpfert, gemeißelt und geschmirgelt in Judith Vanistendaels „Atan von den Kykladen“.
Kleine Momente - große Wirkung
Vanistendael mag ich, seit sie mit „Als David seine Stimme verlor“ eine bewegende Sterbebegleitung in Comicform hervorgezaubert hat. Was damals gefiel: Die Belgierin blies nichts auf, war aber trotzdem nie langweilig, weil sie geschickt auf die kleinen Momente achtete. Und letztlich ist das auch die Methode, die „Atan von den Kykladen“ so überzeugend macht. Atan ist irgendwo zwischen 14 und vielleicht 17, und seine Eltern haben bemerkt, dass er beim Töpfern nicht nur geschickte Finger hat, sondern auch recht gute Ideen. Also schicken sie ihn nach Naxos in die Lehre, in die Marmorwerkstatt von Meister Dario.

Mehr braucht es eigentlich auch nicht: Wir sehen Atan beim Lernen zu und erfahren nebenher selber ein bisschen was. Wie man so lebte im Griechenland der bronzezeitlichen Kykladenkultur. Wie man zerbrochene Figuren repariert. Wie man Farben mischt. Wie sich Kunst verbreitet und gefeiert wird. Es ist sowas wie eine „Sendung mit der Maus“, aber charmant an Atan entlang erzählt und einfallsreich illustriert.
Sonniges Weiß, kühles Blau
Vanistendael lässt die Bilder harmonisch ineinander übergehen, taucht alles in diese schöne Kombination aus sonnigem Grellweiß und kühlem Meerblau, die einem manchmal so abgedroschen vorkommt, die sich aber doch immer wieder als entspannend-frisch herausstellt. Zumal die 49-Jährige hier vorwiegend große Panels einsetzt, auf denen sie die lesenden Augen sanft spazieren führt. Tatsächlich taucht man in ihr Griechenland ein wie in eine schöne Schüssel Joghurt mit Honig und Walnüssen. Klingt nicht nach viel, aber das muss man erst mal hinbekommen.

Die Inspiration zum Comic stammt von echten Figuren im Pariser Louvre, die natürlich im Making-of-Teil des Comics abgebildet sind. Wer hingegen mehr von Judith Vanistendael selbst sehen, wissen und hören will: Süddeutsche Comicfans können sie am 16. April gratis im Münchner HP8 erleben. Und wer weiß, vielleicht kriegt Vanistendael bis dahin sogar mal einen Eintrag in der deutschen Wikipedia.
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- 28. Jan. 2024
Lang nicht so gelacht: Blutchs bezaubernd brillante Episoden aus einem heranwachsenden Bubenkopf

In unlustigen Zeiten käme was zu lachen recht. Und mir ist tatsächlich was sehr Spaßiges in die Hände gefallen. Mit (zugegeben) Verspätung, aber was soll's: ein würdiger Nachfolger des „Kleinen Nick“. Nein, nicht Riad Sattoufs „Araber von morgen“, auch nicht „Esthers Tagebücher“. Sondern der 15 Jahre alte (aber noch lieferbare!) Band „Der kleine Christian“ eines Herrn namens Blutch.
Aus dem Donjon gebuddelt
Auf Blutch kam ich, weil ich locker den „Donjon“ verfolge. Jene Endlos-Fantasy-Parodie von Lewis Trondheim und Joann Sfar, die für alle empfehlenswert ist, die Fantasy nicht total ablehnen. Sie ist oft sehr gut und (noch wichtiger und schwieriger): praktisch nie schlecht. Sfar und Trondheim texten und lassen einen dritten Mann (bisher nur einmal eine Frau) zeichnen, weshalb man en passant eine Menge Zeichner mit ihren Stilen kennenlernt. Wie etwa in „Der Sohn der Drachenfrau“ jenen Blutch, der eigentlich Christian Hincker heißt.

Die Story erkundet die Kindheit eines „Donjon“-Hauptcharakters, sie ist niedlich, sentimental, absurd und auch sehr brutal. Und sie wirkt so gut, weil Blutch sie geradezu champagnertrocken zeichnet. Weshalb ich ihn sofort als einen guten Blain-Epigonen einsortierte, was aber nicht ganz stimmen kann: Blutch hat sich am Comicmarkt früher etabliert als Blain.
Burt Lancaster muss nicht ins Bett
Egal: Weil Blutchs Umsetzung so gut war, suchte ich mehr von ihm und fand „Der kleine Christian“. Ich habe tatsächlich lang nicht mehr mit einem Band so viel Spaß gehabt. Dabei ist das Erfolgsrezept denkbar einfach. Blutch erzählt Episoden seiner Kindheit in den 70/80ern. Klein-Christian sieht fern, liest Comics und misst sein Leben an dem seiner Helden. Was würde Farah Fawcett tun, wie würde Steve McQueen gehen, stehen und dreinsehen, und sitzen die Haare so wie die von Rahan, dem Sohn der Vorzeit? Was gezeichnet so aussieht: Christians Familie sitzt beim Abendessen, Mutti sagt zu Christian, er soll seinen Teller leer essen. Aber da sitzt nicht Christian, sondern John Philip Law in seiner Rolle als „Dr. Justice“. Banal, oder? Aber brüllkomisch, weil Blutch alles richtig macht.

Erstens nimmt er alles so todernst wie es nur Kinder können. Weshalb Dr. Justice den Weisheiten seines Kampfsport-Lehrers folgend glaubt, durch das Leeren des Tellers auch den späten Kriegsfilm im Fernsehen gucken zu dürfen. Klappt natürlich nicht. Zweitens überdreht Blutch den Einsatz seiner Filmstars und Helden nicht: Sie bekommen ihren Auftritt genau im richtigen Moment: Christian ist nur zwei Panels lang Burt Lancaster (s.o.), in denen er vor seinen Mitschülern behauptet, er dürfte abends ins Bett, wann er wolle und obendrein Filme ab 18 sehen. Und drittens hat Blutch auch sonst sein Handwerk im Griff: Etwa das schnelle Übersetzen einer Situation in eine absurd andere, weshalb beispielsweise die erste alleinige Flugreise zur Reise auf den Mars wird.
Demnächst: der Ritterschlag
Was letztlich dazu führt, dass ich sofort nach mehr von Blutch suchen muss. Gibt auf deutsch gar nicht mal so viel, aber im April wird’s vielversprechend: Blutch darf – wie zuvor schon Mawil und andere Stars – einen Lucky Luke Band gestalten. Gewissermaßen ein Ritterschlag. Ich freu mich drauf.
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- 21. Jan. 2024
Sandra Rummlers cleveres DDR-Memoir „Seid befreit“ eröffnet einen neuen Blick auf vertraute Mechanismen und die Migrationskrise

Also, vorsichtshalber: Sandra Rummler zeichnet in „Seid befreit“ ihre Protagonisten eher plakativ-naiv, also gar nicht toprealistisch, und – wie? Das stört Sie nicht? Weil man sich schnell dran gewöhnt? Ja, dann lass ich natürlich die Vorwarnerei und sage: Rummlers Band ist nicht nur ausgesprochen ansehnlich, sondern – bei aller Nostalgie – auch unerwartet aktuell.
Bedrohliche Luftpost
Auf den ersten Blick erzählt die Berlinerin vor allem ein geschickt designtes DDR-Memoir. 1976 wurde sie in einem Land geboren, das 1989 verschwand – im Sinne der meisten Bewohner. Einen der Hauptgründe illustriert Rummler mit starken Bildern (deren Wirkung der knappe Text noch unterstreicht): Auf ihrer Seite der Berliner Mauer ist die Welt grau, heruntergekommen und so langweilig, dass bereits eine Postkarte an einem Luftballon eine Attraktion ist. Sie liest sie, schreibt arglos zurück und muss sich prompt rechtfertigen, als eine westdeutsche Antwort im Briefkasten landet.

Warum sich Staat und linientreue Eltern sorgen, weiß jeder aus dem Intershop, wo es für Westgeld Westprodukte gibt. Dort herrscht bunter, sauberer Überfluss. Im DDR-„Konsum“ dagegen „roch es muffig und die Regale waren nur halb gefüllt.“ Möglich, dass im „Konsum“ Profit tatsächlich nicht an erster Stelle stand. Aber die Bürger offenbar noch viel weniger. Eben das machte Westpost zur Staatsgefahr.
Das Leuchten! Die Farben!
Die Wochen nach dem Mauerfall sind aufregend und bunt. Rummler zeigt die Attraktionen unscharf, aber dafür deren Leuchten und Farben umso brillanter. Obendrein bietet gefühlt jede Wand neue Graffitis, Freiheit und die Lust, sie auszuleben. Ein Happy End, sollte man meinen. Aber schon bald sind die Westler zunehmend genervt von den überall glotzenden Ossis. Ihnen wird klar, dass die Neuen Routinen und Hackordnungen durcheinander bringen. Als Sina in eine Schule im Westteil der Stadt kommt, wird sie wegen Kleidung, Benehmen und Dialekt als Ossi erkannt und gemobbt.

Hintergrund ist natürlich, dass der Westen allmählich merkt, dass die DDR-Integration Geld kosten wird. Helmut Kohl redet von blühenden Landschaften, aber viele Wessis rufen Sina und ihren Freundinnen lieber zu: „Geht da hin, wo ihr herkommt!“ und – Moment mal.
Sind solche Sätze vielleicht gar nicht nur für Syrer, Libanesen, Ghanaer reserviert? Sondern schlicht für jede Gruppe, die in größerer Zahl neu ankommt? Und vielleicht mal was klaut? Denn auch Sina und ihren Freundinnen fehlt Geld für die schöne neue Warenwelt, weshalb sie zur Selbsthilfe greifen. Waren etwa Helmut Kohls „blühende Landschaften“ am Ende nichts anderes als Merkels „Wir schaffen das“? Und wenn das alles so ähnlich ist – wie haben wir dann damals diese Krise gelöst? Mauern hochgezogen? Anreize gestrichen? Die Leute hinter Zäunen eingepfercht? Nicht? Sondern?
Vertriebene, Spätaussiedler, Migranten
Laut Statistik haben wir 1,75 Billionen Euro ausgegeben. Und nehmen in Sachsen, Thüringen & Co inzwischen jährlich rund 60 Milliarden Euro allein an Landessteuern ein. Rentiert sich also, wie 1945. Da nahm Westdeutschland acht Millionen Heimatvertriebene auf, Schlesier, Sudetendeutsche und etliche mehr. Die ungeliebt waren, weil sie Wohnungen brauchten, heulheulheul, und heute? Rentierrentierrentier. Unter Helmut Kohl wurden in den 90ern zwei Millionen Spätaussiedler eingesammelt, wieder wohnungslos, wieder blöd, heulheulheul, und heute? Was die Migrationsproblematik zwar nicht beseitigt, aber doch stark relativiert.

Frau Rummler ist auch nirgendwohin abgeschoben worden (wohin auch?), sondern geblieben. Sie malt und zeichnet heute spannende Stadtansichten (gucken Sie mal hier), ist Grafikerin und macht eben auch sehr gute Comics, die in einem Verlag verlegt, in einer Druckerei gedruckt, im Buchhandel verkauft werden. Da haben alle was davon, sogar Nicht-Comicleser, die kriegen nämlich Steuern. Was bleibt, ist das Heimweh der Einwanderer, von dem auch Sina nicht verschont bleibt: „Manchmal würde ich gern meine Heimat besuchen“, schreibt Rummler mit einem nostalgischen Blick in die letzten verbliebenen, vertraut-verlotterten Hinterhöfe. „Mir in der Bäckerei ein Makronentörtchen holen, Softeis am Bahnhof essen, Maracuja-Limo im Konsum kaufen.“
Und wieder: kein Unterschied zum Iraker, Afghanen, wem auch immer.
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