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Comicverfuehrer

Mitreden tun viele, dieser Comic liefert Fakten: „Games“ zeigt, wie Flucht funktioniert und welche angeblichen Lösungen nur bluffen

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Illustration: Patrick Oberholzer - Splitter Verlag

Wann ist ein Comic zum Thema „Flüchtlinge“ gut? Wenn er uns weiterbringt. Wenn er (acht Jahre nach 2015) über Mitleid und Mitleiden hinaus Zusammenhänge herstellt. Nach dem ausgezeichneten „Der Riss“ (2017) gelingt das jetzt seit langem wieder mal: In „Games“ dröselt der Schweizer Patrick Oberholzer anhand von fünf afghanischen Flüchtlingsschicksalen Gesetzmäßigkeiten der Migration auf, die auf anderen Routen ähnlich greifen dürften. Supersachlich, mit Statistiken untermauert, griffig, schlüssig. Weshalb man direkt nach der Lektüre sofort Vieles besser begreift. Man macht sich ja selten klar, wie so eine Flucht tatsächlich aussieht. Diese Fluchtumstände sind jedoch ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der ganzen Frage.


Mit 25.000 Dollar über jede Grenze


Wie sieht diese Flucht also aus? Bequem und schnell, wenn man superreich ist. Dann kauft man für 25.000 Dollar den Flug und ein falsches Visum. Alle anderen gehen zu einem Schlepper und buchen Holzklasse. Kostet derzeit knapp 6.000 Dollar (war schon mal teurer), die man ganz oder in Raten bei einem Vertrauensmann hinterlegt. Dafür kriegt man ein Ticket für einen wochen-, monatelangen Horrortrip. Der beginnt oft mit einem Abstecher nach Pakistan. Zwar muss man eigentlich in den Iran, aber von Pakistan aus kommt man dort etwas einfacher hin.

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Illustration: Patrick Oberholzer - Splitter Verlag

Wobei „einfacher“ ein interessanter Begriff ist angesichts dieser Reise: Ohne Winterausrüstung, ohne Träger bei Dunkelheit, in tagelangen Wanderungen über die schweinekalten Scheißberge. Von Grenzsoldaten ausgeraubt, geschlagen, zurückgeschickt. Dann wieder von vorne. Warten auf den nächsten Versuch, dann los, nachts, Scheißberge, immer wieder, bis es klappt. Erst dann kriegt der Schlepper sein Geld für die Etappe. Dann geht's von Pakistan in den Iran. Nochmal dieselbe Scheiße. Die Berge, die Kälte, der Hunger, die Gefahr. Dann muss man durch den Iran selbst. Und wissen Sie, wie man den durchquert? Ich wusste es nicht. Bis „Games“.


Verkeilt im Kofferraum


In einer viertürigen Limousine, ja, aber nicht mit vier Passagieren. Drei Menschen sitzen auf dem Beifahrersitz. Acht sitzen auf der Rückbank. Drei Menschen sind im Kofferraum. Und wir reden hier nicht von einem Kombi oder vom Kofferraum eines US-Straßenkreuzers der 60er. Sondern vom Kofferraum eines mittelgroßen BMW oder Mercedes. Zu dritt hineingefaltet. 600, 700 Kilometer. Im geschlossenen dunklen Stahlkasten, heiß, kaum Luft, stundenlange Starre, malen Sie sich's selbst aus. Diese Menschen werden halb wahnsinnig, halb panisch, aber wenn man rastet, können sie nicht mehr alleine aussteigen, so verkrampft sind sie.

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Illustration: Patrick Oberholzer - Splitter Verlag

Andere werden im leeren Tank eines Busses geschmuggelt. Nicht allein, sondern man schiebt solange weitere Leute in das lichtlose Loch, bis der Tank voll ist. Man kann auf der offenen Ladefläche eines Pick-ups fahren. Ohne Gurt, Versicherung, im halsbrecherischem Tempo eines Schleppers unter Aufputschmitteln. Man wird mitten in der Wüste abgesetzt, bis andere Schlepper kommen oder auch nicht, bei 50 Grad am Tag oder Minusgraden in der Nacht. Der Weg in die Türkei führt dann über die nächsten Scheißberge, eine kalte Steinwüste. Wasser ist knapp, unterwegs zahlt man 20 Euro pro Flasche. Frauen müssen jederzeit mit Sexforderungen rechnen, mal mit Gewaltandrohung, mal als Tauschhandel.


Grenzen vermauern? Wird längst gemacht


Die iranisch-türkische Grenze selbst ist streng überwacht. Die Mauer, von der viele Flüchtlingsphobiker in Deutschland träumen, ist dort längst Wirklichkeit, inklusive türkischen und iranischen Grenzern mit Schießbefehl. Natürlich trotzdem mit Lücken. Wer es dann durch die Türkei schafft, hat den lebensgefährlichen Trip mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer vor sich. Alternativ kann er auch an den „Games“ teilnehmen: So nennen die Flüchtlinge das Wieder- und-wieder-und-wieder-Ausprobieren, wann man es über Land nach Bulgarien in die EU schafft. Ohne aufgegriffen, geschlagen, ausgeraubt zu werden. Je nach Geldbeutel sind dazwischen Wochen und Monate als Schwarzarbeiter zu erbärmlichen Löhnen nötig, um die weitere Strecke zu finanzieren. Danach folgt der wochenlange Marsch auf der Balkanroute. Weniger Lebensgefahr, aber immer noch Kälte, Hunger, Durst.

Und nun? Warum ist diese Flucht der Schlüssel zur Flüchtlingsfrage?

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Illustration: Patrick Oberholzer - Splitter Verlag

Na, sagen wir, ein Jens Spahn bietet Ihnen an, er würde das Problem mit „physischer Gewalt“ lösen. Da weiß man sofort: Bullshit. Die ganze Flucht besteht ja schon aus physischer Gewalt in Formen, die in Rechtsstaaten unvorstellbar sind. Da ist Spahns Schlagstock nur ein Knüppel mehr.


Jagd auf Schlepper erhöht nur deren Profit


An dieser ganzen Irrsinnsflucht lässt sich 1:1 ablesen, wie furchtbar die Alternative zuhause sein muss. Ich nähme derlei nicht auf mich, Sie auch nicht. Aber diese Menschen würden es nochmal machen und nochmal, bis es klappt. Weil es bei ihnen zuhause immer noch hundert Mal scheißer ist. Da können deutsche Kommunalpolitiker Gutscheine ausstellen wie sie wollen.

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Illustration: Patrick Oberholzer - Splitter Verlag

Sind’s die Schlepper? Natürlich nicht, auch dieses ganz rational berechenbare Geschäft dröselt Oberholzer in seinem Erstling (!) schön auf. Schlepper zu bekämpfen erhöht nur den Reisepreis, höhere Preise werben wieder neue Schlepper an. Nein, die Triebfeder des Ganzen ist die Entschlossenheit der Menschen, nicht mehr unter unfähigen Drecksregierungen wie jener der Taliban dahinzuvegetieren, als unterernährte, dummgehaltene, zwangsverheiratete, zwangsrekrutierte Betmaschinen. Die Einsicht, dass sie nicht nach Pakistan fliehen können, das derzeit Hunderttausende zurückschickt in den Gottesknast.


Fakten statt Bullshit


Welche Schlüsse Sie draus ziehen sollen, mag ich Ihnen nicht sagen (meine finden Sie hier). Aber Patrick Oberholzer schildert in starken Bildern die Tatsachen, die Sie berücksichtigen müssen, wenn Sie sich selbst auf die Suche nach Formen einer vernünftigen Flüchtlingspolitik machen möchten.



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„Schon gehört, was Ed Gein getan hat?“ erzählt, wie der wahre Fall hinter „Psycho“ ein Erfolgs-Genre begründete: den Serienkiller aus der Nachbarschaft

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Illustration: Harold Schechter/Eric Powell - Splitter Verlag

Mediengeschichte – klingt fad, oder? Serienmörder klingt besser, richtig? Hier haben wir beides und noch viel mehr, aber für den Anfang sage ich nur: Es geht um den Typ, der das Vorbild für Hitchcocks „Psycho“ war. Möchten Sie mehr wissen?


Horror-Feuerwerk – and more


Ging mir genauso. Der Mann hieß Ed Gein, und seine schaurige Geschichte erzählt der empfehlenswerte Band „Schon gehört, was Ed Gein getan hat?“ Gein wächst in den USA als Sohn eines verbitterten Vaters und einer herrschsüchtigen, fanatisch-religiösen Mutter auf. Den Tod des Vaters steckt er noch weg, den Tod der Mutter verkraftet er weniger gut. Er entwickelt ab 1945 eine eigenwillige Beziehung zu älteren Damen, zu seinem eigenen Körper, und seine Farm wird zu einer ziemlichen Horror-Location, bis alles 1957 auffliegt. Als gelernter Boulevard-Reporter schwöre ich Ihnen: richtig guter Stoff, den man einfach wie ein Feuerwerk abbrennen könnte, in dem man zum Beispiel sagt: „Leichenschändung!“ Aber das tun Eric Powell und Harold Schechter nicht.

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Illustration: Harold Schechter/Eric Powell - Splitter Verlag

Beide nutzen das derzeit wieder recht aktuelle Genre der True-Crime-Story. Sie arbeiten die Geschichte anhand der Verhöre und Gerichtsakten sehr sachlich auf. Die Familiengeschichte, die Mutter, das Elend, Armut und Hass, sie lassen nichts weg, was Geins schwer erklärliche Entwicklung etwas erklärlicher macht. Die Gerüchteküche überlassen sie dabei genauso der tratschenden Dorfbevölkerung wie die zusätzlichen Erfindungen den Boulevardreportern. Und bevor jetzt einer gähnt: das tatsächliche Entsetzen nutzen sie natürlich auch, aber sie vermitteln es vor allem über die geschockten Ermittler.


Die Optik: Eisner in faxenfrei


Der Stil ist gut gewählt: Eric Powells Bebilderung ist ein wenig altmodisch: sehr plastische, realistische Zeichnungen in Schwarz-weiß. Das erinnert an Will Eisner, wenn er mal seine Faxen weglässt, auch an MADs Mort Drucker minus die karikaturistische Übertreibung. Und es sieht sachlicher aus als es ist, denn natürlich werden Spannungsmomente wie die Untersuchung der Gein-Farm geschickt inszeniert. Und wo ist jetzt die Mediengeschichte?

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Illustration: Harold Schechter/Eric Powell - Splitter Verlag

Die liegt in der Eleganz, mit der das Buch die Bedeutung des Falls „Ed Gein“ transparent macht: All die Serienkiller, die wir aus dem Kino kennen, wurden durch den Fall Gein inspiriert. Vorher gab es nur Monster aus dem All, Vampire, Gespenster. Der Massenmörder aus der Nachbarschaft trat erst mit Gein ins Bewusstsein. Der Autor Robert Bloch erkennt zuerst das Potential und nutzt es im Roman „Psycho“, Hitchcock potenziert die Wirkung in der Verfilmung. Ab diesem Erfolg sucht man nach anderen Fällen, die True-Crime-Literatur entsteht (das Bücherregal meiner Eltern war voll davon, und ich habe gern zugegriffen).


Ohne Gein kein „Schweigen der Lämmer“


Serienmörder sind spätestens sei dem (ebenfalls schwer von Gein beeinflussten) „Schweigen der Lämmer“ ein Standard-Genre im Kino, im Fernsehen, und jetzt auch erneut im Comic: „Schon gehört, was Ed Gein getan hat?“ beleuchtet zugleich den Thriller-Fall, aber auch das ganze Phänomen. Und zwar so gut, gruselig und geschmackvoll zugleich, dass es kein Wunder ist, dass der Splitter Verlag schon jetzt einen Band über Jeffrey Dahmer in Aussicht stellt.



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Zwei Comics schildern Genozid und Gegenwart der Jesiden: Statt Betroffenheit nutzen sie harten Humor und erstaunlich viel Action

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Illustration: Mikkel Sommer/Tore Rorbaek - bahoe books

Interessiert mich die Sache mit den Jesiden? Mmmjaa, schon irgendwie, muss ja auch, weiß garnicht, worum‘s da genau geht, sollte mich auch erst vorher einlesen – nein, muss ich nicht: Zwei sehr gute Comics helfen aus, spannend, berührend, empörend und auch komisch. Wenn man sie gelesen hat, wird die Welt nicht unbedingt schöner: Aber man weiß mehr. Doch ich gebe zu: Der entscheidende Auslöser für mich waren nicht die Jesiden. Sondern der Name Zerocalcare.


Tölpeliger Reporter-Nerd


Dahinter steckt der italienische Cartoonist Michele Rech, der sich auf eine Art von autobiografischem Cartoon-Journalismus spezialisiert hat. Darin zeigt er sich selbstironisch als neurotischen Nerd, der schlecht informiert in Brennpunkte stolpert und dort eine Menge naiver Fragen stellt – genau die Fragen, die sich die Leser häufig nicht (mehr) zu fragen trauen. In „Kobane Calling“ etwa dröselte er auf diese Art die Situation der Kurden in Nordsyrien auf. Jetzt, in „No Sleep Til Shingal“, widmet er sich den Jesiden im Irak.

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Illustration: Zerocalcare - avant verlag

Jesiden? War da nicht alles irgendwie gut? Die waren doch 2014 vom Islamischen Staat (IS) massakriert worden, aber dann wurden die meisten doch noch irgendwie gerettet, oder? Und dann – keine Ahnung, war wohl nicht mehr so interessant … Genau hier holt Zerocalcare seine Leser ab und fragt sich durch ihre und seine Wissenslücken. Die überlebenden Jesiden sind tatsächlich wieder etwa da, wo sie vorher waren, werden dort aber inzwischen von der Türkei bombardiert und vom Irak bedroht.


Im Kriechgang durchs Checkpoint-Chaos


Warum? Weil 2014, als der IS gerade seinen Völkermord durchführte, die Rettung von PKK-nahen Kurdenmilizen aus Syrien kam. Was die Jesiden so beeindruckte, dass sie daraufhin beschlossen, sich zu bewaffnenund so ähnlich zu organisieren. Diese Organisation beleuchtete Zerocalcare in „Kobane Calling“ als erstaunlich demokratisch, erstaunlich frauengleichberechtigt, entschlossen prokurdisch. Alle drei Elemente sind für Erdogans Türkei inakzeptabel: Sie geht davon aus, die Jesiden in Shingal wären durch ihre Systemkopie eben zu einer anderen Art Kurden geworden. Feuer frei!

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Illustration: Zerocalcare - avant verlag

All das erfährt man, wenn man Zerocalcare in das irakische Zuständigkeits-Chaos folgt. Durch zahllose Checkpoints, an denen fragwürdige Karrieristen der jeweiligen Gruppierungen ihre plötzliche Macht ausspielen und die jungen Männer mit ihren Maschinenpistolen sich nur durch ihre Frisuren unterscheiden: Schiitische Milizen wirken etwa wie martialische Gotcha-Spieler, irakische Soldaten haben die Frisur alter Boygroups.


Kurden sind nicht Kurden


Doch so unkonventionell Zerocalcares Vergleiche und Analogien sind, so überzeugend wirkt sein Humor: blitzschnell und direkt, immer wieder mit komischen Übertreibungen. Rasch wird klar: das Anliegen der Jesiden ist berechtigt, nur die Rolle der Kurden bleibt unklar. Wenn die Jesiden von syrischen Kurden gerettet wurden, warum kooperieren haben sie dann nicht mit den Kurden nebenan im Nordirak?

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Illustration: Mikkel Sommer/Tore Rorbaek - bahoe books

Um das zu verstehen, empfiehlt sich der Comic „Shingal“ von Mikkel Sommer und Tore Rorbaek, die das Thema zu einem aus Zeugenaussagen gefertigten Actionthriller verarbeiten. Es sind die irakischen Kurden, die 2014 die wehrlosen Jesiden ohne jede Vorwarnung im Stich lassen: Nicht in Panik, sondern koordiniert, über Nacht, sie verwehren sogar den Jesiden die Fluchtstraßen, um Platz für die Militärkonvois zu haben. Warum? Die irakischen Kurden können heute gut mit der Türkei, beide verbindet das Ziel, dem Irak den Norden abzuspalten. Der Gedanke liegt nahe: Der IS sollte damals die Dreckarbeit übernehmen und die von lästigen Jesiden bewohnte Gegend erst mal leervölkermorden.


Betäubende Bombardements


Für politische Comics ungewöhnlich ist, wie actionreich „Shingal“ die Geschichte konsumierbar macht: Die verzweifelte Flucht in die Berge. Die Feuergefechte in der Nacht. Der Kampf um Wasser. Die Mörserbombardements des IS. Das (genauso wie bei Zerocalcare) beeindruckende Auftauchen der Kurdenmilizen aus Syrien, gerade auch der bewaffneten Fraueneinheiten, ausgerechnet hier in dieser Weltgegend voll Schleierregeln, weiblicher Zweitklassigkeit und Sexsklavinnentum – all das ist mit schlichten, aber wirkungsvollen Zeichnungen geschickt inszeniert. Voll Sympathie für die Sache, aber eng an den Fakten (begleitend gibt’s auch noch ein einordnendes, politikwissenschaftliches Nachwort). Was gerade im Zusammenspiel ein ungewohnt unterhaltsames und zugleich informatives Lesespektakel ergibt.





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