- 5. Okt. 2024
Viel mehr als nur Graphic Memoir: Kristen Radtkes Sachcomic „Seek You“ ist eine spannende Einladung zum gemeinschaftlichen Blick auf uns selbst

Das hier ist eine echte Rarität: Ein Titel, der sich aus meinen Outtakes wieder rausgelesen hat. Der also eine gewisse Zeit brauchte. Klingt nicht so comicverführerisch? Kommt noch schlimmer: Trendthema „Einsamkeit“. Das spielen sie jetzt rauf und runter. Und ein richtiger Comic ist’s auch nicht, mehr so ein illustrierter Text, wie bei Liv Strömquist. Eben eigentlich Outtake-Material. Wieso ist also Kristen Radtkes „Seek You“ trotzdem viel besser?
Das Tempo richtig einteilen
Es hat etwas gedauert, bis ich das richtige Tempo für das Buch gefunden habe: Man liest es nicht in einem Haps weg, weil man ins Grübeln kommt. Radtke erörtert nämlich unterhaltsam, aber auch extrem stringent. Erst das zweite Kapitel hat mich richtig eingefangen: Radtke erzählt von ihrer Fernseherfahrung, allein in einer fremden Stadt, wie sie gern abends zu Sitcoms switcht, wo sie alle Charaktere kennt wie alte Freunde. Und weil dort alles familiär und vertraut wirkt. Dabei erzählt sie auch die Geschichte des in Sitcoms eingespielten Archivgelächters.

Das wird zwar oft als bizarre Witzanzeige verspottet, hat aber inzwischen längst noch eine andere Funktion: Als Geselligkeitsimitat vermittelt es dem Zuschauer vor der Glotze die wohlige Illusion, weniger allein zu sein. Von da spinnt Radtke den Faden weiter, über den Unterschied zwischen allein sein und einsam, den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Einsamkeit, die Glorifizierung der Einsamkeit – aber auch den Hang zur Paranoia. Und weil ich gerade erst einen KI-Sachcomic bemängelt habe, interessiert mich jetzt, was Radtke anders und besser macht.
Vom Wohlstand zur Paranoia
Erstens verpackt sie die Debatte nicht in eine Spielhandlung, was ja schon bei diesen ganzen TV-Dokus nervt, wenn siebtklassige Schauspieler schlecht synchronisiert das Geschichtsbuch aufsagen. Sie hält stattdessen einen Monolog. Weil aber Monolog immer ein abschreckender Haufen Text ist, portioniert sie ihn zweitens geschickt. Auf einer Doppelseite können ganze Absätze stehen, aber eben auch nur zwei, drei Sätze. Was uns zu drittens bringt: Dynamik.

Die ehemalige Art-Directorin arrangiert unser Lese- und Denktempo geschickt, indem sie auch mal nur einen Satz zu einem Splash stellt, wenn der Kopf mal länger bei einem Gedanken verweilen soll.  Wozu (viertens) übrigens auch gehört, dass man nicht einfach mal schneller und mal langsamer doziert, sondern dass man auch die dafür geeigneten Gedanken findet. Fünftens weiß sie auch, dass man in solchen Fällen nicht einfach abbildet, was man ohnehin schon im Text hat.
Bandbreite Gedanken
Wenn man beispielsweise vom Siegeszug des Fernsehens und vom bequemen Daheimbleiben erzählt, zeigt sie statt einer Familie vorm Fernseher das zeitgleich erfundene TV-Dinner zum Aufwärmen. Damit erweitert sie klug die Bandbreite der Gedanken, verhindert das Abnicken und untermauert zugleich ihre Argumente – eine Methode, die sich wohltuend vom bildlosen Kästchenvollschreiben einer Liv Strömquist unterscheidet.

Das Schöne ist, dass die 37-Jährige so eben nicht einfach weichgekochtes „Food for thought“ liefert, sondern Gedanken al dente: Denkansätze mit einem gewissen Widerstand, in die man gerne beißt und die man vorm dem Schlucken auch nochmal durchkauen mag. Probieren Sie’s! Ich empfehle dazu einen guten Rotwein.
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- 28. Sept. 2024
Statt Pathos und Firlefanz: „Madeleine, die Widerständige“ vereint Härte mit Nostalgie zu einem Porträt des französischen Widerstands

Liegt’s am nassen Kopfsteinpflaster? Band 2 der Résistance-Serie „Madeleine, die Widerständige“ ist erschienen, und ich kann mich an diesem alten Paris kaum sattsehen, das Dominique Bertail da zum bläulichen Leben erweckt. Blau ist ja nach wie vor die einzige Ergänzungsfarbe, die er verwendet, aber seltsamerweise kam mir Blau noch nie so bunt vor.
Hilft die Trickserei?
Und so nostalgisch, dass es einem irgendwann fast logisch vorkommt, dass es in diesem Paris immer nass und herbstlich ist, weil sich dann diese nasse Blaugräue noch viel besser inszenieren lässt. Ist natürlich erzählerisch getrickst, und wie bei allen Tricks stellt sich die Frage: hilft’s der Geschichte?

Denn auffliegende Tricks können viel kaputtmachen. Hier nicht: Dazu ist das Gesamtpaket von Szenarist JD Morvan und der echten Madeleine Riffaud zu geschickt geschnürt. Erneut wird viel geschildert, aber nur wenig ausbuchstabiert. Wie taucht man unter? Wie warnt man aufgeflogene Widerständler? Wie notiert man sich Treffpunkte so, dass der Feind mit der Notiz nichts anfangen kann? Wo versteckt man seine Pistole? Wie kommt man überhaupt an Waffen? Riffaud kommentiert all das manchmal aus dem Off, aber sparsam.
Kompetent kompiliert
Wie man überhaupt den Text sehr loben muss: Gerade Autobiographisches ist ja nicht einfach zu sortieren, weil man beim Erzählen der eigenen Geschichte leicht mal zu dicht dran ist. Ich kenne die Original-Memoiren von Madeleine Riffaud nicht, aber was JD Morvan und Riffaud für den Comic zusammengestellt haben, ist erfreulich prägnant, nicht zu gefühlig, schwafelfrei, spannend und man hat hinterher auch noch was gelernt. Und noch eine Sache ist extrem hilfreich: Die Sache mit der Katze bleibt eine Ausnahme.

Die Katze taucht auf einem einzigen Panel auf: Sie sitzt im Regen und faucht die deutschen Stiefel an, die neben ihr vorbeimarschieren. Recht platt, dieses „Guck mal, so böse sind die Deutschen, dass nicht mal die Katze sie mag!“ Und gerade daran, dass einem dieses Panel so unangenehm auffällt, merkt man, dass der Comic sonst derlei Albernheiten weglässt.
Rettende Ohrfeige

Viel charmanter und weiterführender ist die Episode, in der ein Widerständler eine Massenvergewaltigung durch deutsche Soldaten verhindert, indem er sich als Bruder des Opfer ausgibt. Er ohrfeigt sie und sagt ihr, sie solle sich nicht benehmen wie eine Schlampe. Was die Deutschen plötzlich sehr beeindruckt, weil sie zuhause vermutlich auch Schwestern haben. Das hilft bei der Urteilsfindung über Charakterzüge Machtversuchungen fernab der Heimat mehr als die Frage, ob Katzen fauchen oder schnurren. Und die Farbe?
Besatzungs-Blues
Also, im Interview sagt Dominique Bertail, ihm wären „richtige“ Farben falsch vorgekommen, weil die Widerständler den Himmel im besetzten Paris auch nicht schön blau gefunden hätten. Blau als alleinigen Zusatz nahm er, weil ihm „schwarz-weiß zu trocken“ vorgekommen sei, und Blau brächte das Ganze „mehr zum Schwingen“.  Wer mag, kann freilich auch an deutsche Uniformen denken, die im Gedächtnis seltsamerweise immer blaugrauer wirken als sie tatsächlich waren. Zudem ist Besetztsein vermutlich häufig herbstlich deprimierend, vor allem, wenn man von den Besatzern weder Schokolade noch Kaugummi noch Comics kriegt, sondern nur deutsche Herrenmenschen. Im Film gibt’s bekanntlich die schöne Ausrede „Wirkung vor Logik“: Und die gibt Bertail, Riffaud und Morvan in jedem Fall recht: Weil „Wirkung“ hat’s hier jede Menge!
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- 21. Sept. 2024
Riad Sattoufs Tagebuch-Teenie wird 17 – höchste Zeit für den AuthentiCheck: Wie viel Realität steckt in den cleveren Kladden?

Einer meiner Favorites geht in die vorletzte Runde: „Esthers Tagebücher“: Also die Serie, für die Cartoonist Riad Sattouf seit Esthers zehntem Lebensjahr einmal pro Woche mit einem Mädchen seiner Bekanntschaft spricht und eine Comicseite draus macht. Gerne als moderner „Kleiner Nick“ fehl-etikettiert, tatsächlich eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, die durch Kinderaugen eher klarer wird als niedlicher. Einmal pro Jahr kommt ein Sammelband raus, aber: Wie realistisch ist der? Das lässt sich rausfinden. Wir unterziehen „Esther“ dem AuthentiCheck!
Man nehme: ein Mädchen im Esther-Alter
Dazu brauchen wir ein Mädchen, das spricht. Und zufällig haben wir so eins, Julia aus dem ersten Stock. Julia ist wie Esther eine gute Schülerin in einem Gymnasium. Sie ist zwölf, weshalb man ihr einfach Band 3 in die Hand drückt, „Mein Leben als Zwölfjährige“. Arbeits- und Leseauftrag: Was ist gleich? Und was nicht? Zwei Wochen später ist Julia wieder da, und im Band kleben lauter Merkzettel. Blau für „gleich“, pink für „anders“. Los geht’s!

Nummer 1: Esther schminkt sich (s.o.). Oder sie fängt wenigstens damit an und probiert Sachen aus. Julia schminkt sich höchstens faschingshalber. Und in der Schule wird auch noch kaum geschminkt (obwohl ein Mädchen letzten Dezember einen Schmink-Adventskalender bekam). Am ehesten käme für Julia in Frage: Hautcreme und diese Wimpernsache da.
Per Spotzphone zum Smartphone
Nummer 2: Smartphones. Esthers Freundin sabotiert ihr das alte Handy durch Reinspucken, damit Esther eeeendlich ein Smartphone kriegt und ins Internet kann. Wie, muss ich Julia erklären, denn – Julia hat kein Smartphone. Als eines von nur zwei Mädchen der Klasse. Sie vermisst auch keins, was ich sofort glaube, weil Julia viel bastelt, liest, malt, klettert und reimt. Interessant: Kürzlich fuhr ihre ganze Klasse eigens zu einer Art Bösewelt-Training: Schutz vor Drogen, Internet und allem. „Es gab eine Checkliste mit 20 Dingen, die einem im Internet begegnet sein könnten“, staunt Julia, „ich konnte grade drei ankreuzen.“ Dann schüttelt sie lachend den Kopf: „Dass wer sein eigenes Handy kaputtmacht…“

Nummer 3: Tiere. Esther bekommt einen Kleinsthamster geschenkt, mit tragbarem Haus und Plastiktunnel. So niedlich. Und Tiere sind bei Julia auch grade sehr wichtig. Vor allem Hunde. So süß. So fein.
Ach und och.
Hundi.
Naja.
Popmusik-Update
Nummer 4: Musik. Einer der Vorteile von „Esther“ ist, dass man immer von angesagtem Zeug aus Frankreich erfährt. Als alter Mensch will man zwar nicht unbedingt noch einem Typen zuhören, der einen tretautogetunten Refrain über einen Maggi-Instantrhythmus labert. Aber man kann‘s immerhin abchecken. Julia: kein Interesse. Doch: Nur wenige Wochen später hat Julia schon was von Taylor Swift mitgekriegt und kommt im Text von „Shake It Off“ ziemlich weit. Und bei ihrem Geburtstag wird zu Youtube Karaoke gesungen, nämlich Shirin David und, man mag es kaum glauben: Nenas „99 Luftballons“. Wie die Text-/Melodiesicherheit zeigt: nicht nur als Gnadenbeweis für ältere Anwesende.

Nummer 5: Esther schimpft mit Sattouf, weil er ihre Sprache runterdimmt. Ihr geht was „auf den Sack“ oder „auf die Nüsse“, aber er drückt sich oft drum herum. Das findet Julia lustig, aber schlimmer als „blöd“ findet sie meist nichts. Und die Jungs? Die sagen oft Seltsames. Grade die Mittelpunktjungs, die den meisten Quatsch machen. Deren Lieblingswort derzeit: „Babybällchen“. Wer als Nicht-Mittelpunktjunge ankommen will, muss auch gelegentlich „Babybällchen“ sagen. Und Julia hat keine Ahnung, was es heißt. Das sagen die Jungs aber nur untereinander, zu Mädchen sagen sie es nicht. Rätsel über Rätsel.
Das Hurenrätsel
Nummer 6: Was ist eine Hure? Das sagen blöde Jungs manchmal zu Esther, zu Julia und ihren Freundinnen sagt das offenbar niemand. Dabei wohnt Julia weder auf dem Land noch im begütert-behüteten München-Grünwald. Julia kennt nur „Prostituierte“ (vom kürzlichen Gefahren-Workshop, s.o.). Offenbar ist München stellenweise weniger krass als Paris. Oder nur in Julias sehr ordentlicher Schule?

Nummer 7: Die Küsserei. Esther wird gern geküsst, Julia nicht so. Von Mama geht, aber sonst: Lieber umarmen. Es gibt da eine Freundin in der Schule, die küsst sehr großzügig. Heute schon dreimal! Wieviel wäre zuviel? Zehnmal, definitiv. Fünfmal ginge grade noch. Küssen findet Julia nur in einem Fall gut: Wenn sie damit ihren Bruder ärgern will.
Halb verstanden, halb geahnt
Fazit 1: Esthers Welt findet statt, auch bei uns, obwohl Julia an manchem noch nicht interessiert ist – die Kurse der Schule zeigen es, und die Texte von Shirin David und Taylor Swift auch. Da wird manches mitgesungen, halbverstanden, geahnt und/oder vermutet. Und das selbst ohne Smartphone.  Â

Fazit 2: Der neue Band zeigt, dass es schon seinen Grund hat, weshalb Sattouf die Serie nur bis zum Alter von 18 fortsetzen will. Tatsächlich verliert Esthers Blickwinkel schleichend an Reiz, je näher er dem der Erwachsenen kommt. Auch wenn verschiedene Momente extrem direkt treffen: Esther aus eine ordentlich-kleinbürgerlichen Familie gilt beim Workshop für Kinderbetreuung als „Bonzin“. Im Probecamp verheddert sie sich in einer Missbrauchsdebatte, als sich ein Elfjähriger in sie verguckt. Ihr fällt auf, dass ihre Eltern altern, und dass sie selbst in der Schule andere mitgemobbt hat. Dennoch: Die Momente werden weniger, denn Esther ist schon ziemlich nahe am erwachsenen Blick.
