- 2. Aug.
Unverschämt trifft unbedarft: Was klingt wie ein Manga-Klischee wird in den Händen von Mariko Tamaki zum einfühlsamen Coming-of-age-Knüller

Ist das jetzt noch LGBTQIA-Zeug, frage ich mich. Und dass ich mich das frage, finde schon mal sehr gut. Ich bin erneut auf den Spuren des Vorwerks von Mariko Tamaki, diesmal lese ich „Laura Dean und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht“, gerate aber anfangs ins Stolpern.
Kein Junge namens Freddy
Ein Junge namens Freddy schreibt aus dem Off an eine Ratgebertante, dass er in ein Mädchen namens Laura Dean verliebt ist, was offenbar sehr schwer ist. Laura Dean ist so eine junge Brünette, und Freddy ist so ein kurzhaariger Blonder, der sich ein bisschen arschmäßig benimmt, warum beklagt er sich denn dann? Und ziemlich schnell wird klar, dass ich da was nicht gecheckt habe: Freddy ist gar nicht der Junge, sondern die Brünette. Und der blonde Arschmäßige ist ebenfalls ein Mädchen, eben jene Laura Dean.

Mein erster Gedanke, logisch, ist: „Warum sagt einem das denn keiner?“ Einfache Antwort: Weil hier jemand einfach mal mit der Lesberei nicht hausieren geht. Wozu auch: Freddys beste Freundin Doodle ist selbst lesbisch, und Heteros reden ja auch nicht dauernd darüber, dass sie hetero sind: Sie wissen's ja.
Ein ziemlicher Arsch

Sofort begreift man hingegen auch dank des Titels, dass Laura Dean ein ziemlicher Arsch ist. Sie benutzt Freddy nach Strich und Faden, lässt sie bei Langeweile als Pausenkasper antanzen und und bei jeder besseren oder mittelmäßigen Gelegenheit sitzen. Und ansonsten sieht sie zu, dass sie dank ihres Schulstar-Faktors möglichst bessere Gesellschaft findet oder mehr Bewunderer um sich schart, oder, oder, oder.
Wo reicht's?
Elegant gewählt ist, dass diese toxische Liebe keiner 30-Jährigen zustößt, sondern einem Mädchen, bei dem noch einige Stofftiere im Zimmer herumkugeln. Dem diese ganze Erotik-Sex-Liebes-Sache neu ist und das richtige Verhalten komplett rätselhaft. Das erst lernen muss: Was muss man eigentlich hinnehmen? Und wo darf’s einem dann auch mal reichen?
Flirtkampf: David gegen Goliath
Vieles an dieser Coming-of-age-Novel ist nicht neu, aber trotzdem rührend und vor allem spannend. Denn Laura Dean ist zwar nicht viel älter, dennoch so haushoch überlegen, dass man sich einfach auf Freddys Seite schlagen muss. Erfreulich ist auch, wie wurscht das Lesbenthema ist, obwohl es doch ständig präsent bleibt.

Liebe ist Liebe ist Liebe, aus, fertig. Mit einer drolligen Ausnahme: Obwohl Freddy und ihre Freundinnen sich schon sehr progressiv fühlen, halten sie zugleich stur daran fest, dass je zwei Leute sehr exklusiv zusammengehören, nicht etwa drei oder acht. Was da wohl die Polyamourösen dazu sagen?
Mariko Tamaki (Text), Rosemary Valero-O’Connell (Zeichnungen), Annette von der Weppen (Üs.), Laura Dean, und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht, Carlsen, vergriffen, aber gebraucht günstig verfügbar, etwa hier.
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- 21. Sept. 2024
Riad Sattoufs Tagebuch-Teenie wird 17 – höchste Zeit für den AuthentiCheck: Wie viel Realität steckt in den cleveren Kladden?

Einer meiner Favorites geht in die vorletzte Runde: „Esthers Tagebücher“: Also die Serie, für die Cartoonist Riad Sattouf seit Esthers zehntem Lebensjahr einmal pro Woche mit einem Mädchen seiner Bekanntschaft spricht und eine Comicseite draus macht. Gerne als moderner „Kleiner Nick“ fehl-etikettiert, tatsächlich eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, die durch Kinderaugen eher klarer wird als niedlicher. Einmal pro Jahr kommt ein Sammelband raus, aber: Wie realistisch ist der? Das lässt sich rausfinden. Wir unterziehen „Esther“ dem AuthentiCheck!
Man nehme: ein Mädchen im Esther-Alter
Dazu brauchen wir ein Mädchen, das spricht. Und zufällig haben wir so eins, Julia aus dem ersten Stock. Julia ist wie Esther eine gute Schülerin in einem Gymnasium. Sie ist zwölf, weshalb man ihr einfach Band 3 in die Hand drückt, „Mein Leben als Zwölfjährige“. Arbeits- und Leseauftrag: Was ist gleich? Und was nicht? Zwei Wochen später ist Julia wieder da, und im Band kleben lauter Merkzettel. Blau für „gleich“, pink für „anders“. Los geht’s!

Nummer 1: Esther schminkt sich (s.o.). Oder sie fängt wenigstens damit an und probiert Sachen aus. Julia schminkt sich höchstens faschingshalber. Und in der Schule wird auch noch kaum geschminkt (obwohl ein Mädchen letzten Dezember einen Schmink-Adventskalender bekam). Am ehesten käme für Julia in Frage: Hautcreme und diese Wimpernsache da.
Per Spotzphone zum Smartphone
Nummer 2: Smartphones. Esthers Freundin sabotiert ihr das alte Handy durch Reinspucken, damit Esther eeeendlich ein Smartphone kriegt und ins Internet kann. Wie, muss ich Julia erklären, denn – Julia hat kein Smartphone. Als eines von nur zwei Mädchen der Klasse. Sie vermisst auch keins, was ich sofort glaube, weil Julia viel bastelt, liest, malt, klettert und reimt. Interessant: Kürzlich fuhr ihre ganze Klasse eigens zu einer Art Bösewelt-Training: Schutz vor Drogen, Internet und allem. „Es gab eine Checkliste mit 20 Dingen, die einem im Internet begegnet sein könnten“, staunt Julia, „ich konnte grade drei ankreuzen.“ Dann schüttelt sie lachend den Kopf: „Dass wer sein eigenes Handy kaputtmacht…“

Nummer 3: Tiere. Esther bekommt einen Kleinsthamster geschenkt, mit tragbarem Haus und Plastiktunnel. So niedlich. Und Tiere sind bei Julia auch grade sehr wichtig. Vor allem Hunde. So süß. So fein.
Ach und och.
Hundi.
Naja.
Popmusik-Update
Nummer 4: Musik. Einer der Vorteile von „Esther“ ist, dass man immer von angesagtem Zeug aus Frankreich erfährt. Als alter Mensch will man zwar nicht unbedingt noch einem Typen zuhören, der einen tretautogetunten Refrain über einen Maggi-Instantrhythmus labert. Aber man kann‘s immerhin abchecken. Julia: kein Interesse. Doch: Nur wenige Wochen später hat Julia schon was von Taylor Swift mitgekriegt und kommt im Text von „Shake It Off“ ziemlich weit. Und bei ihrem Geburtstag wird zu Youtube Karaoke gesungen, nämlich Shirin David und, man mag es kaum glauben: Nenas „99 Luftballons“. Wie die Text-/Melodiesicherheit zeigt: nicht nur als Gnadenbeweis für ältere Anwesende.

Nummer 5: Esther schimpft mit Sattouf, weil er ihre Sprache runterdimmt. Ihr geht was „auf den Sack“ oder „auf die Nüsse“, aber er drückt sich oft drum herum. Das findet Julia lustig, aber schlimmer als „blöd“ findet sie meist nichts. Und die Jungs? Die sagen oft Seltsames. Grade die Mittelpunktjungs, die den meisten Quatsch machen. Deren Lieblingswort derzeit: „Babybällchen“. Wer als Nicht-Mittelpunktjunge ankommen will, muss auch gelegentlich „Babybällchen“ sagen. Und Julia hat keine Ahnung, was es heißt. Das sagen die Jungs aber nur untereinander, zu Mädchen sagen sie es nicht. Rätsel über Rätsel.
Das Hurenrätsel
Nummer 6: Was ist eine Hure? Das sagen blöde Jungs manchmal zu Esther, zu Julia und ihren Freundinnen sagt das offenbar niemand. Dabei wohnt Julia weder auf dem Land noch im begütert-behüteten München-Grünwald. Julia kennt nur „Prostituierte“ (vom kürzlichen Gefahren-Workshop, s.o.). Offenbar ist München stellenweise weniger krass als Paris. Oder nur in Julias sehr ordentlicher Schule?

Nummer 7: Die Küsserei. Esther wird gern geküsst, Julia nicht so. Von Mama geht, aber sonst: Lieber umarmen. Es gibt da eine Freundin in der Schule, die küsst sehr großzügig. Heute schon dreimal! Wieviel wäre zuviel? Zehnmal, definitiv. Fünfmal ginge grade noch. Küssen findet Julia nur in einem Fall gut: Wenn sie damit ihren Bruder ärgern will.
Halb verstanden, halb geahnt
Fazit 1: Esthers Welt findet statt, auch bei uns, obwohl Julia an manchem noch nicht interessiert ist – die Kurse der Schule zeigen es, und die Texte von Shirin David und Taylor Swift auch. Da wird manches mitgesungen, halbverstanden, geahnt und/oder vermutet. Und das selbst ohne Smartphone.

Fazit 2: Der neue Band zeigt, dass es schon seinen Grund hat, weshalb Sattouf die Serie nur bis zum Alter von 18 fortsetzen will. Tatsächlich verliert Esthers Blickwinkel schleichend an Reiz, je näher er dem der Erwachsenen kommt. Auch wenn verschiedene Momente extrem direkt treffen: Esther aus eine ordentlich-kleinbürgerlichen Familie gilt beim Workshop für Kinderbetreuung als „Bonzin“. Im Probecamp verheddert sie sich in einer Missbrauchsdebatte, als sich ein Elfjähriger in sie verguckt. Ihr fällt auf, dass ihre Eltern altern, und dass sie selbst in der Schule andere mitgemobbt hat. Dennoch: Die Momente werden weniger, denn Esther ist schon ziemlich nahe am erwachsenen Blick.
