Bildstark, sarkastisch und unterhaltsam: Alain Ayroles „Der Schatten der Aufklärung“ beleuchtet boshaft die Karriere eines Taugewenigs
Nur dass Sie’s wissen: Ich muss mich manchmal auch immer wieder selbst überzeugen. In diesem Fall: von Alain Ayroles. Warum? Weil seine neue Serie „Der Schatten der Aufklärung“ optisch schon wieder so entgegenkommend ist, so kommerziell ansprechend, und prompt denke ich natürlich: „Sicher Mist.“ Aber: man soll doch dem Autor vertrauen, oder? Und Ayroles verdankt man doch den grandiosen (und ebenfalls verdächtig zugänglich aussehenden) „Indienschwindel“? Also gucke ich rein. Und was soll ich sagen? Es lohnt sich.
Ein Schönling schreibt mit Blut
Wieder widmet sich Ayroles einem talentierten Taugewenig, dem Chevalier de Saint-Sauveur. Der vergnügt sich Mitte des 18. Jahrhunderts in französischen Adelskreisen, will sich ganz nach oben intrigieren, an den Hof des Königs. Und gerade, als Saint-Sauveur auf 30 Seiten die unschuldige Eunice de Clairfont verführt hat und man sich denkt: „Jaja, wie in Gefährliche Liebschaften“, da findet sich der Schönling plötzlich von Indianern verfolgt im kanadischen Urwald und ritzt sich die Hand auf, damit er wenigstens Blut zum Schreiben seines Abschiedsbriefs hat.
Ein eigentlich plumper Trick, aber Ayroles verzeihe ich ihn gern, weil er in seinem Intrigantenstadel soviel besser macht als viele der Abenteueralben, die es sonst so gibt. Er textet nicht alles zu, vor allem sagen nicht dauernd Leute etwas, das man dann auch noch im Bild sieht. Eunice etwa will lesen, wissen, sich bilden, also denkt sich Ayroles Szenen aus, die das zeigen und illustriert damit nebenbei auch noch doppelseitig die Dorfschule, deren Lehrer im Moment grade der Schuhmacher ist, im Nebenjob. Und zu schwülstigen Liebesbrieftexten zeigt Ayroles, wie ein Vermieter seinen Knecht durchprügelt.
Brieftexte aus dem Off
Dafür hat Ayroles auch deshalb viel Zeit, weil er den ganzen Band als Briefroman gestaltet hat: So kann er immer wieder in Kästen die süffisanten Brieftexte laufen lassen und im Bild das zeigen, was währenddessen in den Köpfen oder auch anderswo tatsächlich vorgeht. Man muss sich nur etwas dran gewöhnen, weil man anfangs leicht mit den vielen Sendern und Empfängern durcheinanderkommt. Die Zeichnungen von Richard Guérineau helfen dabei. Besonders verdienstvoll: Man spürt praktisch in jedem Panel die Versuchung, all dem auch noch ein karikierendes Sahnehäubchen aufzusetzen, aber Guérineau und Ayroles widerstehen. Eine exzellente Entscheidung.
Denn Ayroles mag‘s gelegentlich auch klamaukig: Wohin das allerdings führt, zeigt seine Serie „Garulfo“, in der ein Frosch in einen Prinzen verwandelt wird. Geradezu atemlos hechelt das Abenteuer von Pointe zu Pointe. Zeichner Bruno Maiorana liefert auch noch Karikatives ohne Ende dazu, und genau dieses allgemeine Zuviel führt dazu, dass letztlich kaum ein Gag die optischen Versprechen einlöst. Der „Schatten der Aufklärung“ wählt genau den umgekehrten Weg, und sofort geht die Rechnung auf.
Wirkung statt Klamauk
Die Rendite: coole, dramatische und auch erotische Panels wirken umso stärker. Und Ayroles/Guérineau haben mehr als genug Gelegenheiten dafür: Ayroles erweitert die Bandbreite, indem er Saint-Sauveur einen Irokesen erwerben lässt, mit dem er bei Hofe glänzen will, und nicht nur diesem Irokesen verleiht Ayroles ein Eigenleben, sondern auch Saint Sauveurs Handlanger Gonzague. Und was anfangs aussah wie eine recht herkömmliche Mantel-und-Degen-Nummer, erweitert sich plötzlich zu einer spannenden Geschichte über Lügen, Missbrauch, Kolonialismus, Armut, Reichtum, krankhaften Ehrgeiz.
Ein bisschen schade ist nur, dass die „Schatten der Aufklärung“ portionsweise verabreicht werden, weil auch ich den Inhalt von Teil 1 wieder vergessen haben werde, wenn Teil 2 denn mal im Januar erscheint. Aber gut: Was Kevin Costner recht ist, darf einem Ayroles billig sein.
Lange vergriffen, jetzt wieder verfügbar: Derf Backderfs bizarre Highschool-Erinnerungen an den Serienmörder Jeffrey Dahmer
Lust, 25 Euro zu sparen? Also jetzt grade sind’s so 25 Euro, denn die Empfehlung von heute gab es lange nur gebraucht, für 56 Euro (!) oder mehr (!!), und jetzt erscheint sie neu für 30. Schön, oder? Jetzt müsste Sie nur noch der Comic interessieren, aber da hab ich gar keine Sorge, denn es geht um das beliebte Thema „True Crime“, und da auch noch um die Königsdisziplin „Serienmörder“. Ist das was für Sie? Wusste ich’s doch. Es kommt aber noch besser!
Der Serienkiller als Schulfreund
Erstens handelt es sich in „Mein Freund Dahmer“ auch noch um Jeffrey Dahmer, sozusagen einen Superstar unter den Serienmördern. Und zweitens suhlt sich die Story von John „Derf“ Backderf nicht stumpf in Schlächtereien, sondern findet einen einzigartigen und unerwarteten Ansatz, bei dem der Zufall etwas zur Hilfe kam. Der darin besteht, dass Backderf mit Dahmer zur Schule ging. So, und wer war jetzt nochmal dieser Dahmer?
Jeffrey Dahmer tötete zwischen 1978 und 1991 in den USA mindestens 16 junge Männer, verging sich an den Leichen, zerstückelte sie und machte sonst noch so Einiges, bei dem man sagen kann: Viel kränker geht’s nicht. Backderf setzt all das als bekannt voraus – und erzählt uns praktisch das Prequel: seine Jugend in Dahmers Dunstkreis.
Wohnen im Depri-Style der 70er
Wir befinden uns in den 70ern in Ohio. Alle wohnen in diesen Häusern, die im Film oft so cool-bürgerlich aussehen und in der Realität so deprimierend sind, und alle gehen auf dieselbe Highschool. Backderf ist einer von ihnen, nur so mittelbeliebt, aber nicht so unbeliebt wie Jeffrey Dahmer, der in der Caféteria oft allein sitzt. Trotzdem entwickeln Backderf und seine Freunde um Dahmer einen gewissen Kult.
Dieser Kult speist sich daher, dass Dahmer unter seinem Außenseitertum zwar leidet, dieses aber in einer Art Trotzreaktion weiterdreht. Er irritiert bewusst Lehrer und Schüler durch unerwartete Schreie und indem er immer wieder einen behinderten Bekannten seiner Eltern körperlich und sprachlich nachäfft. Backderf und seine Nerd-Kumpels übernehmen diese Sprache. Dahmer wird so zwar nicht zum engen Freund, aber zum geduldeten Bezugspunkt, dem man auch mal Geld zusteckt, damit er seine Psycho-Nummer in der örtlichen Mall abzieht. Ein weiterer Dauergag der Clique besteht darin, bei den Gruppenfotos fürs Jahrbuch Dahmer in Kurse zu schmuggeln, in denen er nicht teilnimmt. Das wirkt durchaus bescheuert, aber es sind Sachen, die Jugendliche halt machen im ländlichen Ohio, wo es sonst nichts gibt als Mit-dem-Auto-rumfahren.
Wo die toten Tiere hängen
Obwohl Backderf nie viel mit Dahmer abhängt, bekommt er doch Einblicke in sein Leben. Die furchtbare Ehe der Eltern, der Streit, die Jugendlichen erzählen sich seltsame Geschichten von toten aufgehängten Tieren im Wald, oder wie Dahmer einen Fisch angelt und dann zerhackt. Alle merken zudem, dass Dahmer ständig betrunken ist – um seine Triebe zu betäuben, vermutet Backderf.
All das ist umgeben von einer Aura drohenden Unheils, die sich aus dem Wissen speist, was noch kommen wird – und aus dem Unbehagen, das Backderf und seine Freunde nach der Enthüllung getroffen haben muss. Der eigenwillige Zeichenstil Backderfs ergänzt das ideal, obwohl er anfangs irritiert. Seine seltsam körperklausigen Figuren erinnern stark an MADs Don Martin, aber gerade das macht diese Pubertäts-Unsicherheit in Bezug auf sich und den eigenen Körper geradezu spürbar.
Der Verhaltensgestörte next door
Durch all das wird Backderfs Dahmer weniger mythisch und dafür realistischer. Dahmer wird vom irren Superverbrecher zum Verhaltensgestörten next door. Und Backderfs These, dass Dahmer durch die Einsamkeit nach der High School den letzten Halt verlor, hat einiges für sich: Sozial eingebunden, mit einem häufig anwesenden Freundeskreis, hätte Dahmer möglicherweise anderen Unfug gemacht, aber weniger Zeit für ausgefeilte Morde gehabt. Kleiner Funfact am Rande: Amazon listet die deutsche Originalausgabe nach wie vor in seinen Bestsellerlisten. Und zwar in den Kategorien „Grafische Romane - Erotik“ und „Erotikkalender“.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Dahmer da selber gelacht hätte.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Die Outtakes (15): schlecht alternde Schwänze, ein verstrahlter Vater und ein verpasster Urlaubstraum
Fantasy mit Schlenkerschwanz
Verdacht bestätigt: Richard Corben ohne Autor ist schwer erträglich. Dabei liegt vor mir das unbestrittene Meisterwerk des Kult-Zeichners aus den 70ern, nämlich „Den“, gerade erst neu aufgelegt. Ein schmächtiger Kerl fällt durch irgendein Dimensionstor und findet sich als nackter Muskelmann mit Schlenkerschwanz (vorn, nicht hinten) in einer seltsamen Welt wieder. Die Ungewissheit ist noch das Beste an der Story, und sobald dieses Rätsel gelöst ist, gibt’s nur noch Sätze, die so platt sind, dass jeder Pfannkuchen hochalpin wirkt. Optisch hingegen ist alles da, was das Fantasyherz begehrt, Nackte, Monster, Waffen, Gewalt, alles in abenteuerlich psychedelischen Farben. Kleiner Nachteil: die Nackedeis sind meist näher an Robert Crumb als an Neal Adams oder Frank Frazetta. Aber die Zahl von Corben-Fans ist Legion, und die können sich nicht alle irren, oder?
Rechts überholt
Tja, „Der große Reset“ war Max-und-Moritz-Preis-Kandidat 2024. Und das Thema ist auch gut: Was tun, wenn Familienmitglieder in die Verschwörungsschwurbler-Ecke abdriften? In diesem Fall ist es Vati. Seine Frau und die arbeitslose Tochter sind in die Resignation abgetaucht, und die studierende Tochter auf Heimatbesuch wird erst wieder aufatmen, wenn sie abfährt. Ika Sperling bringt viele hübsche Ideen unter: Im Auto kullern Bierdosen in jeder Kurve von Seite zu Seite, Vater ist nur noch ein durchsichtiger Geist auf Abruf, und aus banalen Details wie dem Anlegen des Rucksacks holt sie eine hübsche kleine Ein-Frau-Choreografie. Das Hauptproblem ist, dass die Zeit Sperlings Ansatz überholt hat: „Der große Reset“ ähnelt dem, was Comics zu Themen wie „Depression“ oder „Autismus“ tun. Aber deren Probleme sind weniger bekannt, wohingegen fast jeder inzwischen einen kennt, der sich in die Idiotie verabschiedet hat. So bleibt eine Geschichte die gut lesbar und ansehnlich ist, aber letztlich den hilflosen Normalgebliebenen nicht wirklich weiter hilft.
Furchtbar weit und furchtbar ernst
Oh Mann, das ist schade, „Transit Visa“ klang so vielversprechend urlaubsreif: Zwei Jungs um die 20 fahren in den 80ern einen schrottreifen Citroen Visa quer durch Europa seinem Ende in der Türkei entgegen. Was mich sofort getriggert hat:
Denn 1979 saß ich selber neben meiner Schwester hinten in einem Citroen DS, fuhr mit den Eltern quer durch die Türkei, die schon kurz hinter der Küste nichts mehr mit dem Touristengebiet zu tun hatte. Aber meine Nostalgie bedient Nicolas de Crécy leider kaum: Zeichnerisch könnte er es zwar, aber erzählerisch ist er zu beschäftigt damit, sich philosophisch in den Nabel zu schauen. Dazu kommt, dass weder Land noch Leute die Jungs damals interessierten und de Crécy daher schnell das Material ausgeht. Drei Bände hat er im Original gefüllt, zusammen sind das jetzt 400 Seiten, in denen er mit wenigen Ausnahmen praktisch jede hübsche Optik unter humorarmen Grübeleien begräbt. Aber: Für Liebhaber dauerrauchender Franzosen, die sich furchtbar ernst nehmen, ist das womöglich die passende Geschichte.