„Der Junker von Ballantrae“: Robert Louis Stevensons hakeliger Romanklassiker überwältigt mit der Bilderflut des kaum bekannten Franzosen Hippolyte
Wer zum Teufel ist dieser Kerl? Ich habe gerade Hippolytes Comic-Band „Der Junker von Ballantrae“ in den Händen, der ist eine unglaubliche Augenweide. Absolut. Und jetzt fängt das Rätseln an: Was ist das für ein Kerl, der diese Geschichte hingezaubert hat? Denn: Der Band mit dem „Junker“ ist schon 16 Jahre alt. Und der Zeichner tauchte seither kaum noch auf. Wie kann das sein?
Hippolyte ist sein Pseudonym, tatsächlich heißt er Frank Meynet, Jahrgang 1976. Und es gibt einen Grund, weshalb der französische „Junker“ ein Dutzend Jahre unübersetzt im Regal von Verleger Philipp Schreiber zugebracht hat: Die Geschichte ist etwas sperrig. Allerdings ist sie auch weltberühmt, wurde 1953 mit Errol Flynn verfilmt und ist im Original ein Roman von Robert Louis Stevenson (genau, der mit der Schatzinsel). Also nahm Verleger Schreiber den Junker vom Regal und das Geld in die Hand, das sie ihm beim Deutschen Verlagspreis 2021 in die Hand gedrückt hatten. Und gönnte sich und der Welt Hippolytes Version auf deutsch.
Eine Familie zwischen den Fronten
Es geht um eine adlige Familie in Schottland, die im Krieg gegen England zwischen die Fronten gerät. Der Vater beschließt: Einer seiner beiden Söhne soll mit den Schotten kämpfen, der andere soll recht englandtreu daheimbleiben. Der Schottenkämpfer entpuppt sich als skrupelloses Windei, das alle Leute um den Finger wickelt und schließlich zum Verräter wird.
Umgekehrt halten alle den braven Daheimbleiber für einen feigen Arsch und hassen ihn, dann kommt das Windei zurück und erpresst den Bruder irgendwie, und ab da wird’s erst so richtig kompliziert. Ist aber egal: wegen der Bilder.
Ehrlich wahr.
Viel Fläche, viel Farbe, viel Licht
Vom Start weg. Hippolyte zeigt die beiden Brüder im neblig sattgelben Wald, geschnitten mit dem Beginn des Krieges, die knallroten britischen Uniformen auf den kühlen grünen Wiesen. Geschickt wechselt er zwischen Close-ups und Totalen, dann gibt’s das Porträt des fiesen Bruders: Ein gigantischer dunkelblauer Dreispitz, drunter der Rock als großer dunkelblauer Keil , aus dem hochgestellten Kragen lugt ein bisschen Gesicht, die enorme Adlernase. All das wirkt unglaublich leicht: Es gibt eine sparsame Bleistiftzeichnung und dann viel Fläche wie aus einem Guss, und dazu etwas Weiß, nicht draufgepinselt, sondern freigelassen.
Und Hippolyte kann alles: Den Landsitz derer von Durrisdeer im winterlichen Grau oder im glühenden Sommer. Die dörflichen Szenen. Das sandgelbe Kopfsteinpflaster. Sattgrüne Abenteuer im indischen Dschungel. Grandiose Segelschiffszenen an Bord des Schiffes von Edward Teach, tödliche Duelle in schwarzblauer Nacht, nur von einigen Kerzen erleuchtet. Sonnendurchschienene Birkenwälder – ein Buch, in dem jederzeit über hakelige Plotstellen hinwegliest, weil man sich weiter und weiter sattsehen möchte. Naja, und wenn der Comic 16 Jahre alt ist, dann muss es doch noch viel, viel mehr von diesem Hippolyte zu entdecken geben. Vielleicht sogar mit etwas eingängigerem als dieser windungsreichen Stevenson-Story...?
Überraschenderweise nicht.
Mehr Ideale als Verkaufstalent
Wer gründlich sucht, findet auf Deutsch schon mal – nichts. Und wenn man nach aufwändigerem Stöbern mal seine Homepage entdeckt, ahnt man, dass dieser Hippolyte offenbar jemand mit Überzeugungen und Prioritäten ist. Und Verkaufserfolge und Gewinnmaximierung sind definitiv nicht seine Nummer Eins.
Der 46-Jährige macht Plattencover für wenig bekannte Musiker, hübsche Plakate und sehr viele Arbeiten, die in den Comic-Journalismus spielen. Über Flüchtlinge, den Bürgerkrieg in Ruanda, lauter Zeug also, das gar nicht so gut zum Abendessen passt. Der Grund, so sagt er in einem Interview, liege in seiner Jugend: Mit 19 schickte ihn seine Mutter in den Libanon, damit er nicht rumgammelt, sondern die Welt sieht. Dort stellte er fest, dass es einer Menge Menschen schlechter geht als ihm selbst. Seither zeichnet er über sie, ihre Welt und begann, sich für sie zu engagieren. Die fiktionalen Comics kamen dadurch offenbar immer ein wenig zu kurz. Sehenswertes findet sich dennoch.
Es gibt viel zu übersetzen – wer packt's an?
Der erste größere Erfolg war eine 2003 Umsetzung von Bram Stokers Dracula, die auch auf Englisch erschien, was auch der Comic „Les Ombres/The Shadows“ 2008 schaffte. Auch ansonsten findet sich in seiner Vita vieles, was sofort Lust aufs Lesen macht, aber nie auf Deutsch erschien. Dazu gehört schwerer Verdauliches wie die Reportage über den Völkermord in Ruanda 1994, aber eben auch ein Band namens „Brako“, auf dessen Cover ich direkt einem unsympathischen Herrn in den Pistolenlauf gucke – was natürlich deutlich unbeschwerteren Genuss verspricht als das Elend der Welt.
Ob’s optisch genauso sehenswert ist wie der „Junker“, kann ich natürlich nicht garantieren, aber wenn’s nur halb so gut ist, bitte ich um sofortige Übersetzung und Veröffentlichung! Ansonsten muss ich wohl mein schimmliges Schulfranzösisch wieder ausgraben.
Aus „ordentlich“ wird „richtig gut“: Die erstaunliche Wandlung der 80er-Persiflage „Shooting Ramirez“
Die Werbung ist schuld. Komplett erlogen. Von hinten bis vorne kein wahres Wort. Aber sie blieb mir im Kopf – weil sie so gut war. Gefunden habe ich sie im ersten Band von „Shooting Ramirez“, einer Geschichte, die ich irgendwie okay fand und unterschätzt habe.
Sie wirkte wie eine gute Kopie von Robert Rodriguez‘ „El Mariachi/Desperado“: Ein Killer geht um, ein Musiker kommt in die Stadt – und wird mit dem Killer verwechselt. Nur, dass diesmal der Musiker ein stummer Staubsaugervertreter ist und die Handlung in den USA der 80er spielt. Naja. Und tatsächlich war die Story randvoll mit Klischees. Was nicht schlimm sein muss, aber das Problem war: Für eine Parodie war es nicht witzig genug, aber dennoch wurde so viel gealbert, dass man die Figuren nicht richtig ernst nahm. Aber man konnte dem Zeichner und Autor Nicolas Petrimaux einfach nicht böse sein. Weil so viel grandioser handwerklicher Krimskrams drinsteckte.
Die 80er: cleveres Requisit statt nur Verarsche
Erstens klappte die Zeitreise ausgezeichnet. Obwohl Petrimaux, Ende 1982 geboren, sich eigentlich nur gerade eben noch für das Spielzeug dieser Dekade interessiert haben kann. Aber er hat ein Auge für die Architektur, das Design, die Mode, dass jeder Filmausstatter neidisch werden könnte. Noch wichtiger: er liefert diese Details nicht nur ab nach dem Motto „Guck-mal-Schulterpolster-haha-80er“, sondern er bindet sie in einen rundum stimmigen 80er-Jahre Tagesablauf.
Zweitens geht Petrimaux wundervoll verschwenderisch mit Platz um. Eine meiner Lieblingsseiten ist ein doppelseitiges Splash zu Beginn: die Staubsaugerfirma von oben. Eine hässliche Firma, so stilvoll Ihre örtliche Geschäftsstelle der AOK, aber plattgedrückt, wir sind ja in Amerika, wo man Platz hat. Es ist ein heißer Sommermorgen, rund um die Firma sind weitere Firmen, genauso hässlich, in der staubdunstigen Ferne sind Palmen und breite Straßen und noch mehr hässliche Gebäude, soweit das Auge reicht. Das ist nicht schön, aber man kann dennoch kaum aufhören, das Auge auf dieser Doppelseite spazieren zu führen, weil alles so gut passt. Die Firma heißt - Achtung, kleines Wortspielchen - „Robotop“. Drittens aber imitiert Petrimaux Werbung. Und da tobt er sich richtig aus.
Kurios inszenierte Kugelmuffe
Schon für den Buchvorsatz, also gleich auf der Innenseite des Covers, erfindet er ein altes Staubsaugerhandbuch. Es gibt eine Geräte-Garantie, er zerlegt akribisch die Einzelteile und erklärt die Montage von Seitenklammern (h.) und Kugelmuffe (k.). Und ganz hinten im Buch gibt nicht dasselbe nochmal, sondern zwei weitere Seiten vom Handbuch. Im Band gibt’s ganzseitige Annonce für den „Harrison Splendid“ (standardmäßig mit Kassettendeck) oder Michael Jacksons Lederjacke, dazu eine Seite der fiktiven „Falcon Today“. All das sieht auf den ersten Blick völlig normal aus, nur wenn man sich durch den ganzen kleinen Text wühlt, findet man die kleinen Pointen und den grotesken Werbe-Unfug. Und deswegen hab ich den zweiten Band in die Finger genommen. Gottseidank!
Denn Petrimaux ist jetzt auch erzählerisch besser geworden. Er lässt seinen Protagonisten die Zeit, ziemlich normale Gespräche zu führen, damit man sie allmählich ins Herz schließt. So dass man jetzt in den spektakulären Actionsequenzen richtig mit ihnen fiebert. Dazu hat er die immer wieder wirkungsvolle Option entdeckt, einige dieser aufwändig nahegebrachten Figuren zu opfern.
Spott und Spannung arbeiten Hand in Hand
Spott und Spannung geraten sich nicht mehr in die Quere, die Einzelteile rasten ein und plötzlich funktioniert alles: Es gibt wunderbare Gegenschnitte, weniger Dialog und mehr Bild, mehr Werbung, ganze imitierte Klatschmagazin und endlich, endlich engagiert sich „Robotop“ ethisch und druckt den neuen Kundenkatalog „aus total verantwortungsvolle Weise in 12 Millionen Exemplaren“.
Was man natürlich nur erfährt, wenn man den ganzen kleingedruckten Wutzifutzikram liest.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Vom Nachahmer überholt: Mit „The End“ und „Mechanica Caelestium“ hängen sich zwei Graphic Novels an bestehende Megatrends – und schlagen die Originale um Längen
Heute mal was Schönes aus dem Bereich MeToo. Nein, nicht das MeToo mit den Frauen, sondern das Marketing-MeToo: Also, wenn sich einer an einen bestehenden Trend hängt oder einen Erfolg kopiert. Meist ist das ein billiger, gelegentlich ein teurer Abklatsch, und man kehrt reumütig zum Original zurück. Manchmal kommt aber Besseres dabei raus. Zwei dieser Glücksgriffe hat gerade Schreiber und Leser gemacht. Gut möglich, dass was für Sie dabei ist, weil: Es handelt sich um Megatrends, die Sie kennen und wahrscheinlich sogar mögen.
Nummer Eins ist für Wohlleben-Fans. Jawohl, der Waldflüsterer. Einer seiner Leser heißt Philippe Chapuis, ist Schweizer und zeichnet unter dem Pseudonym Zep Comics. Zep hat sich „Das geheime Leben der Bäume“ vorgenommen, aber daraus keinen Sachcomic gemacht, sondern einen Ökothriller. Ein junger Praktikant kommt ins Forschungslabor eines Baumforschers. Der Prof hört rund um die Uhr das erste Album der Doors und ist auch sonst reichlich verschroben, zum Beispiel glaubt er, dass alle Bäume miteinander reden und Dinge tun, die Wohllesern arg bekannt vorkommen. Weshalb man Zep vorwerfen könnte, dass er sich einfach ins gemachte Nest setzt. Aber: Zep sitzt nicht einfach, sondern sehr geschickt.
Er hat vor allem die Hauptfalle erkannt: Wohlleben überzustrapazieren. Der Baum-Buddy ist bislang der Irren-Schublade entgangen – das kann aber schnell kippen. Also macht Zep keinen Fancomic. Hauptfigur ist nicht der Professor, sondern der junge Zweifler. Der Prof ist auch noch verschroben, damit Zweifler wie Lesenden die Zustimmung schwerer fällt. Und Zep füllt im rechten Moment die Wohlleben-Thesen passend ab: dreifach konzentriert wie Tomatenmark. So wie Frank Schätzing im „Schwarm“ oder Roland Emmerich im „Day After Tomorrow“. Ergebnis: erst unterhaltsamer Radau, danach die gewünschte Nachdenklichkeit. Versuchen tun sowas viele, hinkriegen nur wenige. Hut ab!
Das gelungene Beispiel Nr. 2, Merwan Chabanes „Mechanica Caelestium“, wildert in der „Tribute von Panem“-Ecke: Hat man jetzt öfter, dass irgendwelche Gesellschaften der Zukunft Jugendliche gegeneinander kämpfen lassen. In diesem Fall sind wir in einer kaputten Welt, in der die HiTech-Macht Fortuna die kleine Reis-Region Pan unterjochen will. Die Gemeinde von Pan fordert aber ein Urteil der „Mechanica Caelestium“: Man regelt den Streit in einer Art Völkerballspiel. Warum sich eine Supermacht darauf einlässt weiß kein Mensch, aber auch die „Tribute“ funktionieren ja nur durch die grandiose Jennifer Lawrence, der man sogar den blühendsten Quatsch abnimmt. Merwans Jennifer heißt: Aster.
Aster ist 17, frech, vorlaut, mit einem Fuchsschwanz am Knackarsch. Aster ist mutig, traut sich, aus rostenden Panzern mit Skeletten drin die verkäuflichen Granaten zu klauben. Der dürre Wallis mit seiner Schlappohrmütze ist in sie verknallt, aber irgendwie kommt Aster grade gut ohne Jungs klar. Aster ist wie aus dem Fundus von Luc Besson, wenn man die passende Action dazu liefern kann. Und hier kommt Merwan ins Spiel.
Ich habe schon lang keine Comicfigur derart auf den Seiten explodieren sehen wie Aster. Weil Merwan weiß, was er zeigen soll, wenn beispielsweise ein Mädchen einen Ball wirft. Ihre grimmige Entschlossenheit beim Ausholen, und dann sofort den Moment, in dem sie schon geworfen hat: Asters verdrehter Körper schwingt aus, der Ball ist längst zehn Meter aus dem Comic rausgeflogen, übrig bleibt ein perfekt eingefangener Augenblick aus Physik und Bio und Energie und Wut. Aster fängt, Aster weicht aus, rasant geschnitten, das erinnert manchmal an Mangas, ist aber um Klassen eleganter: Merwan braucht die penetranten Zoomlinien nicht, ihm reicht der richtige Bildausschnitt und etwas Staub.
Überhaupt: die Bilder. Grandiose Landschaften, blassbunt, als Aquarell oder getuscht. Viel Zeit: Aster kriegt fünf Panels zum Aufwachen, zehn Panels für Frühstück und Katzenwäsche, zehn weitere zum Anziehen, komplett wortlos, das Bild sagt alles. Es gibt zauberhafte kleine Momente, in denen Wallis die schlafende Aster anhimmelt. Der lakonische Humor: Aster und Wallis fliehen vor einem Bär auf ein Windrad, und dann steht unten der Bär in seiner ganzen Ratlosigkeit und kriegt einen winzigen Stein an die Rübe: „Poc“.
All das serviert Merwan immer wieder mit sanfter Slapstick-Attitüde: Entspanntere Actionmomente zeigen seine Figuren zwar auf der Flucht, aber grotesk hüpfend in der Flugphase. Wenn nicht alles täuscht, zitiert Merwan klassische Vorbilder: Aster verbreitet das unschuldige Chaos von „Little Nemo“ – mit dem Wumms von Ignatz Mouse. Die englische Ausgabe zieht Konsequenzen aus dem Wundermädel: Da heißt „Mechanica Caelestium“ einfach „Aster of Pan“. Und womit?
Mit Recht.
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.