Schenken, klar. Comics, logisch. Aber: welche? Sieben Tipps für die Klischeefamilie - und alle, die ganz anders sind.
Was ist der schönste Moment an Weihnachten? Genau, der 27. Dezember, wenn jeder seine Ruhe hat. Dann kann man sich's bequem machen, die Welt leckt einen am Arsch und alle lesen die Comics, die Sie verschenkt haben. Ach so, das ist natürlich blöd für Sie selber. Da hilft nur: Sie verlinken diesen Artikel und schicken ihn an drei gute Freunde, die möchten, dass Sie's am 27. auch schön haben.
Für Vati (will seine Ruhe)
Vati heult, weil er 50 wird und der neue Asterix nicht mehr so ist wie früher? Dem Mann kann geholfen werden: Der Avant-Verlag hat „MacCoy“ ausgegraben. Den Zeichner Antonio Hernandez Palacios kennt Vati noch von „El Cid“ und „Manos Kelly“, aber „MacCoy“ ist nur kurz erschienen, als Vati sich schon mehr für Mädels interessiert hat. Jetzt, wo Vati wieder Zeit für Comics hat, freut er sich, weil es mehr von dem guten alten Zeug gibt, das er noch versteht: Explosive Action aus sensationellen Perspektiven, weite Landschaften, dass einem die Augen übergehen, und ganz nebenher den besten Pferdezeichner wo gibt. Geschenk überreichen, Glühwein daneben stellen, nicht mehr stören.
Für Mutti (will das Richtige tun)
Altern, Zeit und Vergänglichkeit liegen im Trend. Das kommt denen entgegen, die’s gerne etwas ernsthafter haben. Grade erst empfohlen hab ich dazu Yelin/Steinaeckers "Der Sommer ihres Lebens", immer wieder empfehle ich Roz Chasts "Können wir nicht über was anderes reden", unverdient unbehandelt blieb bislang Paco Rocas „La Casa“. Drei Geschwister besuchen nach dem Tod ihres Vaters sein Wochenendhäuschen, erst einzeln, dann miteinander. Sie probieren, das Haus weiterzuführen – aber ohne den Vater ist es nicht dasselbe. Und jetzt? Verkaufen? In seinem Sinne erhalten? Ist es sinnvoll, das Leben aller Verstorbenen in sein eigenes mit zu überführen? Was gebietet der Anstand, was will die Sehnsucht, was wünscht man sich selbst? All das verhandelt Roca in wunderschönen spätsommerlichen Bildern, die einem den Sonnenschein unter den Weihnachtsbaum zaubern. Sehr treffend, sehr versöhnlich, harmonisch, aber nie harmlos.
Für Opas und Omas (wollen Recht haben)
Sie hätten gern alles heute so wie es früher war. Aber genauso gut, und zwar besser. Kein Problem, dafür hat uns der liebe Gott Lewis Trondheim geschenkt. In „Mickey’s Craziest Adventures“ (keine Angst, Text ist deutsch) hat sich der Starautor mit Zeichner Keramidas Micky Maus und Donald Duck vorgeknöpft. Es ist alles wie immer: Micky und Goofy, Minnie, Donald, Dagobert und Daniel Düsentrieb – und doch ist auch alles anders. Die Geschichte ist Slapstick in doppeltem Tempo, nochmal beschleunigt durch einen erzählerischen Trick: Angeblich handelt sich’s um eine ganz alte Comic-Serie, von der leider nicht mehr alle Seiten erhalten sind, weshalb man mal eben übergangslos von Folge 18 zu Folge 21 katapultiert wird. Liebeserklärung, Persiflage, Nostalgie, alles in einem, wenn man Vorwissen mitbringt. Doch davon haben Opa und Oma ja jede Menge.
Für die noch unkomplizierte Tochter (will Prinzessin werden)
„Der kleine Nick“ ist ja als guter Franzose nun schon ein paar Jahre im Ruhestand. Und so viel in seinen Abenteuern auch heute noch funktioniert, so viel ist leider auch komplett überholt. Aber es gibt adäquaten Ersatz: „Esthers Tagebücher“ von Riad Sattouf. Wobei „Ersatz“ stark untertrieben ist: Während der kleine Nick sich nur über die Welt der Großen wundert, kann Esther nebenbei ihre Welt so gut erklären, dass sich den erwachsenen Lesern beim Lachen zugleich ein etwas gruseliger Blick auf die künftige Gesellschaft eröffnet. Der erste Comic seit langem, den man wieder seinen Kindern schenkt, um ihn sich schnellstmöglich selber auszuborgen!
Für die nicht mehr unkomplizierte Tochter (will nicht Mutti werden)
Geschichten, in denen sich Mädchen in junge hübsche Vampire verlieben, sind einfach herzustellen, aber Stories, in denen sich das Mädchen in eine Mumie verliebt? Geht das überhaupt? Das geht und ist sogar herzerwärmend niedlich und verschroben komisch: Dafür bürgt das Skript von Joann Sfar. Die verführerische Optik hingegen stammt von Emmanuel Guibert, der die gediegen-würdevolle Atmosphäre des alten London mit einem sagenhaften Gespür für Bewegungen, slapstickhafte Action und Situationskomik durcheinanderwirbelt. So bildschönen Unsinn gab’s von ihm seither nicht mehr: Die „Tochter“ stammt immerhin schon von 1997. Aber für Mumien ist das natürlich praktisch brandneu.
Joann Sfar/Emmanuel Guibert, Barbara Propach (Üs.), Die Tochter des Professors, Bocola Verlag, 14,90 Euro
Für den Sohn (will das was alle Jungs wollen)
Mit dem Moped durch die Gegend heizen, flotte Sprüche liefern, Monstern den Kopf wegballern und Mädels angucken: Das klingt wie Material für furchtbaren Trash, aber Thomas von Kummant und Benjamin von Eckartsberg haben daraus in „Gung Ho“ eine richtig gute Coming-of-Age-Saga gebastelt. Fleischfressende Monsteraffen haben die Welt überrannt, die Menschheit rettet sich in befestigte Dörfer, wo die Kids sich eingliedern sollen und lieber rebellieren. Das Ergebnis überzeugt, weil die zwei Vons Action, Erotik, Optik und Dialog nicht blind durcheinander schmeißen, sondern punktgenau und sausouverän einsetzen. Da freut sich der Sohn auch später drüber, wenn Möpse nicht mehr die Hauptsache sind.
Für rundum alle
Mit dem „Hochhaus“ bin ich ja nie recht klargekommen, aber: Was weiß schon ich? Der Webcomic wurde nicht nur von zahlreichen Kollegen gelobt, in Erlangen hat man ihn auch mit dem Max-und-Moritz-Preis als besten Comic ausgezeichnet. 102 Wochen lang hat Katharina Greve je ein Stockwerk dazugezeichnet, manche Episoden beziehen sich aufeinander, manche sind eigenständige Tages-Cartoons. Wer mag, kann das „Hochhaus“ jetzt als Buch verschenken, ich empfehle hier aber explizit: den Rollcomic, der die endlose Scrollfunktion des Internets kongenial in eine durchgehende, ungeschnittene Papierversion übersetzt. Und beim Durchrollen sind mir die zahllosen Wohnungs- und Kücheneinrichtungen aufgefallen, die liebevollen, grellbunten Tapetenvariationen, und die vielen Details machen das „Hochhaus“ auch für Skeptiker wie mich absolut sehenswert…
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online
Drei neue Comic-Bände greifen das Migrationsthema auf: Zwei von ihnen geben sich mit Betroffenheit zufrieden – aber einer ist dafür richtig, richtig gut
Jetzt ist es soweit: Das Flüchtlingsthema kommt im Comic an. Gleich drei Bände sind gerade zum Thema erschienen – da kann man nebenbei auch Rückschlüsse auf die Produktionszyklen der Branche ziehen. Viel spannender ist allerdings die Frage: Was taugen sie? Oder: Was nehmen sie sich vor – und erreichen sie ihr Ziel?
Eines vorweg: zwei der drei Bände sind blasenkonform. Wer Flüchtlingsfreund ist, wird darin bestätigt, umgekehrt können sie Flüchtlingsphobie keinen Deut lindern – denn sie machen sich mit der Sache gemein. In „Dem Krieg entronnen“ liegt es in der Natur der Geschichte: Olivier Kugler besucht syrische Flüchtlinge in Kurdistan, Griechenland und Frankreich, und zwar im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen (MSF) – da muss man beinahe von Öffentlichkeitsarbeit reden. Und für „Liebe deinen Nächsten“ haben sich Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer auf einem Rettungskreuzer eingeschifft. Auch hier war der Helfer-Impuls von Anfang an dabei, aber man darf vermuten, dass sie (und jeder halbwegs fühlende Mensch) die Distanz auch dann verloren hätten, wenn sie einigermaßen neutral an Bord gegangen wären. Leider führt die Nähe zu erzählerischen Defiziten.
band 1: Sturheil nach Schema F
Beide Bände halten ihr Anliegen für so toll, dass den Leser alles interessieren muss und/oder wird, was man ihm gibt. Daher prügelt auch Olivier Kugler seine einzige grafische Idee durch das Buch wie einen altersschwachen Esel: Seine Interviews bereitet er zu ganzseitigen Bildern auf, die er mit nummerierten Textkästen, Anmerkungen und Sprechblasen zustopft. Das ist anfangs noch erträglich, aber ab Nummer fünf oder sechs fällt auf, dass man die Schicksale nur noch abarbeitet. Jedes Kapitel beschließt dann ein Interview mit MSF, das sagt, dass das grade geschilderte Elend wirklich scheiße ist und man müsste schnarch. Dass man sich dennoch weiter zum Durchforsten der Seiten überwindet, liegt an der akribischen Beobachtung Kuglers, der immer wieder Details unterbringt, die den Flüchtlingsalltag in seiner Unzumutbarkeit stark illustrieren.
Band 2: Wie Rettung funktioniert
Auch von Borstel/Eickmeyer muten ihrem Leser arge Längen zu, aber sie kriegen die Kurve recht überraschend besser. Nach 40 Seiten Schiffsbeschreibung, Interviews, Maschinenraum, Grillabend mit Crew kommt: der erste Rettungseinsatz, ein informatives und ergreifendes Stück Comic-Journalismus. Weil man Zusammenhänge versteht: Die Rettungsschiffe fahren nämlich nicht planlos durch die Gegend, sie erfahren wann und wo die Flüchtlinge unterwegs sind. Nur deshalb haben sie eine Chance zu helfen, weil man so ein Boot ansonsten im Meer praktisch nicht findet.
Also sucht das Rettungsschiff die Nadel im Heuhaufen. Und einmal auch mitten in der Nacht, wo die Trefferquote dann vollends jenseits von Gut und Böse ist. Hier kombiniert Eickmeyer hinter die Doppelseite des treibenden, überfüllten Bootes im nassen Schwarz eine Doppelseite mit nichts als einem geretteten Säugling im tröstlichen Goldgelb der Rettungswesten. Wer dabei nichts fühlt, heißt wohl schon Gauland.
Man kann natürlich quengeln, dass man so den Leser manipuliert. Was doppelt stimmt: Eickmeyer wechselt in der zweiten Hälfte vom Computerkolorieren zur analogen Aquarelltechnik, liefert wesentlich emotionalere Bilder, die meistens sogar komplett ohne die sonst recht trocken-therapeutischen Texte auskommen. Was erneut die Frage aufwirft, warum der Anfang so zäh werden musste. Das Hauptproblem beider Bände ist freilich nicht die Optik, sondern dass man mit Recht fragen kann, ob Betroffenheit ein weiterführender Ansatz ist – weshalb Band drei so viel besser abschneidet: „Der Riss“, von den spanischen Journalisten Carlos Spottorno und Guillermo Abril.
Band 3: Die Wurzel des Problems - und viele Scheinlösungen
„Der Riss“ beginnt als Foto-Reportagen-Serie entlang der EU-Grenze. Sie starten in der spanischen Exklave Melilla in Afrika, sie zeigen den enormen Aufwand der Grenzsicherung – und die Ursache des Problems: der irrsinnige Sicherheits- und Wohlstandsgegensatz. Sie besuchen die Grenzen zwischen Bulgarien und der Türkei, begegnen erneut der Zaunbaufirma aus Melilla – und demselben Gegensatz zwischen denen drinnen und denen draußen.
Sie begleiten eine (erstaunlich ähnliche) Schiffsrettungsaktion im Mittelmeer, den Flüchtlingssommer 2015, der jetzt völlig normal wirkt, weil der Leser die Motivation dahinter konstant im Hinterkopf hat. Nicht ganz so gut fügen sich die Ausflüge nach Osteuropa ein, aber spätestens in Finnland schließt sich der Kreis: Dort fahren regelmäßig Pkw über die Grenze, marode und überladen wie die Flüchtlingsboote im Mittelmeer. Hinter der Grenze entsteigen ihnen Flüchtlinge aus Afghanistan, Kamerun, sonst wo. Und wie es auf Lampedusa einen Friedhof für abgewrackte Flüchtlingsboote gibt, befindet sich hier einer für Schrottkarren, der vor allem eines bestätigt: Dass Europa auf der Welt derzeit das sinnvollste Ziel ist.
Die Fassungslosigkeit der Autoren darüber, dass große Teile der Europäer die Attraktivität der eigenen Situation derzeit nicht mehr erkennen, ist auf jeder Seite greifbar – und verhilft „Der Riss“ zu einer wesentlich präziseren Forderung als den Konkurrenten: Wer Europa und seinen Wohlstand bewahren will, muss den auslösenden Gegensatz abbauen. Zu deutsch: Er muss mehr Menschen an diesem Wohlstand beteiligen.
Olivier Kugler, Dem Krieg entronnen, Edition Moderne, 24,80 Euro
Gaby von Borstel, Peter Eickmeyer, Liebe deinen Nächsten, 24,80 Euro
Carlos Spottorno/Guillermo Aril, Der Riss, Avant Verlag, 32 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei Spiegel Online.
Mittendrin statt nur dabei: Bittersüß und kitschfrei bringt die Graphic Novel „Der Sommer ihres Lebens“ ihre Leser verblüffend nahe an Tod und Alter
Große, große, große Barbara Yelin. Ich krieg mich kaum noch ein. „Der Sommer ihres Lebens“, heißt das Werk, und ich muss sagen: Hammer. Was auch daher kommt, weil das bei Barbara Yelin nicht immer selbstverständlich ist. Beziehungsweise: Weil Barbara Yelin die Messlatte vom Start weg so hochgeschraubt hat, dass sie sie danach auch öfter mal reißen musste. 2010 war dieser Start, mit „Gift“.
„Gift“ war entsetzlich guter Trübsinn: Die Geschichte der Serienmörderin Gesche Gottfried, Peer Meter hatte ihr das Szenario geliefert, und sie hatte es mit dem Bleistift umgesetzt, eine schwarz-grau-neblige Ballade aus dem protestantisch-freudlosen Bremen des Jahres 1831. So bitter, dass man sie besser nur im Frühling lesen sollte. Mit schlackernden Ohren hab ich dann auf mehr von Frau Yelin gehofft, aber so gut habe ich sie nie wieder gefunden, seither. Also: Inhaltlich, weil zeichnerisch ist sie über jeden Zweifel erhaben und immer wieder erstaunlich wandelbar.
So gut war Yelin lange nicht mehr
2013 lieferte sie die Cartoonserie „Riekes Notizen“, bunt, lebhaft, aber leider mochte ich den Humor nicht so. 2014 kam „Irmina“, eine Frauen-im-Dritten-Reich-Geschichte aus den 30er Jahren, optisch wiederum überzeugend, aber nicht recht zupackend erzählt. Und Yelins BioGraphic Novel über die Schauspielerin Channa Maron mochte ich mir zwar jederzeit ansehen, aber lesen, naja, Max-und-Moritz-Preis hin oder her. Dann jetzt: „Der Sommer ihres Lebens.“ Was für ein Pfund!
Die Geschichte handelt von Gerda Wendt, die in einem Seniorenwohnheim lebt. Und die sich fragt, ob es das jetzt war, und wenn ja: Was „das“ dann gewesen ist. Was Gutes? Was Schlechtes? Mit diesem Bisschen an Inhalt füllt Yelin 80 Seiten, die deshalb so grandios sind, weil sie zusammen mit dem Autor Thomas von Steinaecker immer ganz aufs Ziel fixiert sind: Das ziemlich normale Altern zu schildern, das Leben auf der Zielgeraden, das mit etwas gesundheitlichem Glück bei uns allen nicht schlimmer aussehen wird, sondern genau so.
Die Zielgerade des Lebens
Gerda kann mit dem Rollator gehen, sie ist körperlich wacklig, aber erträglich beieinander. Sie ist klar im Kopf, aber sie denkt in kurzen Sätzen, sie hat Probleme, die Stockwerke des Heims auseinanderzuhalten: Oft wirkt Gerda, als lebe sie in einer Art Nebel, weil der gebrechliche Körper ihr immer wieder die Klarheit des Hier und Jetzt unterbricht. „Oft denke ich, ich bin bereits tot“, schildert sie diese eigenwillige Zwischenwelt, „trotzdem will ich jetzt wieder öfter an früher denken. Ich spüre dann, ich lebe noch.“
Früher war Gerda ein aufgewecktes Mädchen, mit Interesse für Zahlen. Sie hat sich durchgesetzt, sie ist Astrophysikerin geworden, hat sich verliebt, eine Tochter bekommen und sich später von ihrem Mann getrennt. Ein ganz normales Leben, mit einem ganz normalen Alter.
Altern ist schwer, aber niemand ist schuld
Sie hat keine größere Krankheit, ihr fällt einfach nur jeder Schritt schwer. Gerda braucht jeden Tag Hilfe: Sie wird geweckt und gewaschen und betreut. Wer Angehörige in diesem Alter hat, erkennt an den Pflegerinnen mit ihrem freundlich-furchtbaren Schwäbisch, dass Gerda durchaus in einem recht guten Wohnheim wohnt. Auch das ein wichtiger Punkt, der den Comic mit seinem oft drückenden Thema so außerordentlich erträglich macht: Es geht von Steinaecker und Yelin nicht darum, irgendwem Schuld zuzuschieben. Es geht nicht darum, wie oft Tochter und Enkelin zu Besuch kommen – es geht nur darum, wie Gerda damit umgeht, dass sie einmal ein Leben hatte, ein richtiges, pulsierendes, und wie sie die Tatsache bewältigt, dass sie bald gar kein Leben mehr haben wird.
Konsequent spielen Yelin/Steinaecker zu diesem Zweck die Gegensätze aus: Gerda im Campingurlaub als Kind, Gerda, die sich Anerkennung und eine Assistenzstelle erarbeitet, die glücklich die Liebe in ihr Physikdeutsch übersetzt, die sich für ihren Mann gegen eine Stelle im Ausland entscheidet – diese Momente waren und sind genauso real wie es nun die tägliche Bitte der Pflegerin ist, Gerda möge doch die Arme „noch a Stückle höher“ nehmen, „wie wenn Sie fliege wollet“. Der starke Moment auf dem Cover ist nur ein Beispiel für diese bittersüßen Momente: Wir sehen oben das offene Fenster in der Mansarde, durch das wir hören, wie Gerdas späterer Mann ihr auf der Gitarre die Beatles vorspielt, der Blick geht hinaus, auf den Baum vor dem Haus und endet unter den Blättern neben dem Stamm bei Gerda, die vor ihrem Wohnheim steht. Ihr Blick zeigt uns dabei das Staunen, das wohl alle Menschen in dieser Situation gleichermaßen ergreift: Wenn diese beiden Momente real sind, warum ist es dann so unmöglich, zu dem schöneren zurückzukehren?
Druckversion schlägt Webcomic-Variante
Erstmals erschienen ist die Geschichte 2015, online, als 15-teiliger Webcomic bei 114, dem Onlinemagazin des S. Fischer Verlags – warum, ist nicht ganz einsichtig. Auf dem PC-Bildschirm bleibt von der Wirkung der Bilder wenig übrig, auf einem großen hochkant gehaltenen Tablet allenfalls etwas mehr, auf dem Handy praktisch nichts. Tatsächlich funktioniert der Comic erst jetzt richtig, weil gerade die ganzseitigen Illustrationen und die Umblätter-Momente gedruckt ihre eigentliche Wirkung entfalten können. Ich kann diesen Comic nicht genug empfehlen. Die einzige Einschränkung: Er schlägt vermutlich eindrucksvoller ein, wenn man deutlich jenseits der 30 ist.
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.