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Comicverfuehrer

Lange vergriffen, jetzt wieder verfügbar: Derf Backderfs bizarre Highschool-Erinnerungen an den Serienmörder Jeffrey Dahmer

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Illustration: Derf Backderf - Splitter Verlag

Lust, 25 Euro zu sparen? Also jetzt grade sind’s so 25 Euro, denn die Empfehlung von heute gab es lange nur gebraucht, für 56 Euro (!) oder mehr (!!), und jetzt erscheint sie neu für 30. Schön, oder? Jetzt müsste Sie nur noch der Comic interessieren, aber da hab ich gar keine Sorge, denn es geht um das beliebte Thema „True Crime“, und da auch noch um die Königsdisziplin „Serienmörder“. Ist das was für Sie? Wusste ich’s doch. Es kommt aber noch besser!


Der Serienkiller als Schulfreund


Erstens handelt es sich in „Mein Freund Dahmer“ auch noch um Jeffrey Dahmer, sozusagen einen Superstar unter den Serienmördern. Und zweitens suhlt sich die Story von John „Derf“ Backderf nicht stumpf in Schlächtereien, sondern findet einen einzigartigen und unerwarteten Ansatz, bei dem der Zufall etwas zur Hilfe kam. Der darin besteht, dass Backderf mit Dahmer zur Schule ging. So, und wer war jetzt nochmal dieser Dahmer?

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Illustration: Derf Backderf - Splitter Verlag

Jeffrey Dahmer tötete zwischen 1978 und 1991 in den USA mindestens 16 junge Männer, verging sich an den Leichen, zerstückelte sie und machte sonst noch so Einiges, bei dem man sagen kann: Viel kränker geht’s nicht. Backderf setzt all das als bekannt voraus – und erzählt uns praktisch das Prequel: seine Jugend in Dahmers Dunstkreis.


Wohnen im Depri-Style der 70er


Wir befinden uns in den 70ern in Ohio. Alle wohnen in diesen Häusern, die im Film oft so cool-bürgerlich aussehen und in der Realität so deprimierend sind, und alle gehen auf dieselbe Highschool. Backderf ist einer von ihnen, nur so mittelbeliebt, aber nicht so unbeliebt wie Jeffrey Dahmer, der in der Caféteria oft allein sitzt. Trotzdem entwickeln Backderf und seine Freunde um Dahmer einen gewissen Kult.

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Illustration: Derf Backderf - Splitter Verlag

Dieser Kult speist sich daher, dass Dahmer unter seinem Außenseitertum zwar leidet, dieses aber in einer Art Trotzreaktion weiterdreht. Er irritiert bewusst Lehrer und Schüler durch unerwartete Schreie und indem er immer wieder einen behinderten Bekannten seiner Eltern körperlich und sprachlich nachäfft. Backderf und seine Nerd-Kumpels übernehmen diese Sprache. Dahmer wird so zwar nicht zum engen Freund, aber zum geduldeten Bezugspunkt, dem man auch mal Geld zusteckt, damit er seine Psycho-Nummer in der örtlichen Mall abzieht. Ein weiterer Dauergag der Clique besteht darin, bei den Gruppenfotos fürs Jahrbuch Dahmer in Kurse zu schmuggeln, in denen er nicht teilnimmt. Das wirkt durchaus bescheuert, aber es sind Sachen, die Jugendliche halt machen im ländlichen Ohio, wo es sonst nichts gibt als Mit-dem-Auto-rumfahren.


Wo die toten Tiere hängen


Obwohl Backderf nie viel mit Dahmer abhängt, bekommt er doch Einblicke in sein Leben. Die furchtbare Ehe der Eltern, der Streit, die Jugendlichen erzählen sich seltsame Geschichten von toten aufgehängten Tieren im Wald, oder wie Dahmer einen Fisch angelt und dann zerhackt. Alle merken zudem, dass Dahmer ständig betrunken ist – um seine Triebe zu betäuben, vermutet Backderf.

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Illustration: Derf Backderf - Splitter Verlag

All das ist umgeben von einer Aura drohenden Unheils, die sich aus dem Wissen speist, was noch kommen wird – und aus dem Unbehagen, das Backderf und seine Freunde nach der Enthüllung getroffen haben muss. Der eigenwillige Zeichenstil Backderfs ergänzt das ideal, obwohl er anfangs irritiert. Seine seltsam körperklausigen Figuren erinnern stark an MADs Don Martin, aber gerade das macht diese Pubertäts-Unsicherheit in Bezug auf sich und den eigenen Körper geradezu spürbar.


Der Verhaltensgestörte next door


Durch all das wird Backderfs Dahmer weniger mythisch und dafür realistischer. Dahmer wird vom irren Superverbrecher zum Verhaltensgestörten next door. Und Backderfs These, dass Dahmer durch die Einsamkeit nach der High School den letzten Halt verlor, hat einiges für sich: Sozial eingebunden, mit einem häufig anwesenden Freundeskreis, hätte Dahmer möglicherweise anderen Unfug gemacht, aber weniger Zeit für ausgefeilte Morde gehabt. Kleiner Funfact am Rande: Amazon listet die deutsche Originalausgabe nach wie vor in seinen Bestsellerlisten. Und zwar in den Kategorien „Grafische Romane - Erotik“ und „Erotikkalender“.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Dahmer da selber gelacht hätte.

 



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In Lena Steffingers beklemmend-bunter Parabel „Alles Gute“ erwartet ein bizarres Urlaubsparadies gutgelaunt die kommende Katastrophe


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Illustration: Lena Steffinger - Jaja Verlag

Merkwürdig. Denkwürdig. Dabei sieht „Alles Gute“ gar nicht so aus. Sondern viel mehr wie ein weiterer, prinzipiell gutartiger Comic aus dem gleichfalls prinzipiell recht gutartigen Jaja-Verlag. Buntstiftig gezeichnet, knallige Farben, Blümchen, alles wirkt so harmlos, dass man’s sofort gelangweilt weglegen möchte. Wäre aber ein großer Fehler. Und das erste Indiz dafür ist, wie Lena Steffinger ihre Geschichte verseltsamt.


Warten auf die Besuchung


Eine junge Frau fährt in einen Ort am Meer, die Gegend ist hübsch, sonnig, naja, die Blumen sind ein bisschen groß (ist mir anfangs garnicht aufgefallen bzw. ich hab's für ein Stilmittel gehalten). Und das Ortsschild sagt: „Paradisen. Mehr als Sie je erträumen werden.“ Was irgendwie ungelenk klingt, aber was soll‘s. Kurz darauf trifft die Frau eine andere junge Frau. Sie wird die Andere offenbar ablösen, der Job ist wohl nicht ganz unproblematisch, denn die Andere sagt: „Wird schon gut gehen, die letzte Besuchung war recht mild.“ Hä? Besuchung?

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Illustration: Lena Steffinger - Jaja Verlag

Was ist eine Besuchung? Und wenn die auch unmild sein kann, warum fährt man dann da überhaupt hin? Wie Steffinger ab jetzt mit all diesen Fragen spielt, ist mit jeder Seite eine immer hellere Freude. Die junge Frau wird das Sorgentelefon des Ortes betreuen. Als Ortsfremde, die völlig neu angekommen ist? Sie wird ein Katastrophen-Kit bekommen, und alle werden ihr sagen, wie brutal hart ihr Job sein wird. Aber tatsächlich wird sie in einem vollverglasten Büro über der Stadt thronen, in dem keine Sau anruft.


Ungenutzte Kummernummer


Ich sag’s gleich: Wenn Sie’s lieber präzise mögen, wird das kein schönes Lesen für Sie. Aber wenn Sie’s kafkaesk mögen, ist „Alles Gute“ einfach grandios. Die „Besuchungen“ sind offenbar Katastrophen, die den Ort alle sieben Jahre heimsuchen. Sie sind jedes Mal anders, sie sind zugleich Bedrohung, aber auch Touristenattraktion, und je näher das Datum rückt, desto mehr wird gerätselt, was es wohl diesmal sein könnte. Es ist eine eigenwillige Form von sorgloser Lustangst, die den Ort erfüllt, den wunderlicher Weise auch niemand verlässt.

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Illustration: Lena Steffinger - Jaja Verlag

Verraten will ich nicht all zu viel, man kann’s auch bei diesem Rätsel belassen – aber man kann selbstverständlich auch ins Symbolische abdriften, sobald man den Eindruck hat, dass es einem womöglich bekannt vorkommt, wie Leute sehenden Auges in eine Katastrophe gleiten. Steffinger ließ sich von der Corona-Pandemie inspirieren, aber herausgekommen ist etwas wesentlich breiter Deutbares. Das einen auch deshalb so beklommen macht, weil es eben nicht in den handelsüblich Finsterfarben daherkommt, sondern so leuchtend sonnig, mit grünen Parks, freundlichen Menschen, interessanten Häusern und weitestgehend schurkenfrei. Ich würde da jederzeit Urlaub machen, aber natürlich nicht, wenn ich mit Besuchungen rechnen muss.

 




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  • 20. Juli 2024

Manu Larcenets Comicumsetzung des dystopischen Bestsellers „Die Straße“: erbarmungslos, verstörend und alptraumhaft gut

Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt
Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt

Ich habe die Hölle gesehen, und gezeichnet hat sie Manu Larcenet. Man kann es wirklich nicht anders nennen, obwohl „Die Straße“ (nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy) natürlich auf furchtbare Art unterhaltsam ist. Aber man liest den Comic fassungslos, fühlt sich danach verstört, schockiert, auch deprimiert. Kann man sowas empfehlen?

Nein. Man muss.


„Resident Evil“, „Walking Dead“: alles Pipifax


Die Story ist denkbar einfach: Ein Vater wandert mit seinem Sohn durch eine zerstörte Welt, vermutlich in Amerika. Und „zerstört“ bedeutet in diesem Fall nicht die „Soylent Green“-Welt mit ihrem Rest an Zivilisation. Auch nicht die „Mad Max“-Welt mit ihrem noch kleineren, aber aufregend motorisierten Rest Zivilisation. Oder die attraktiv aufgemonsterte „Resident Evil“-Welt, nein, all das ist Pipifax.

Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt
Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt

Diese Welt ist unbewohnbar, es ist kalt und regnet Asche, und die „Walking Dead“-Gemeinde kann sich ihre Selbstversorger-Träume in die Haare schmieren: Hier wächst nichts mehr. Die Städte sind im Zustand von Deutschland ’45. Vater und Sohn wollen nach Süden, weil sie „noch einen Winter“ nicht überstehen werden und hoffen, im Süden sei es wohl wärmer. Und so ziehen sie los, in Lumpen gewickelt schieben sie irgendwas Einkaufswagenartiges durch den Schutt.


Das Essbarste: andere Leute


Welche Katastrophe das ausgelöst hat, ist so unklar wie der Zeitpunkt. Fest steht: Er muss einige Jahre zurückliegen. Denn es findet sich kaum noch Essbares, obwohl praktisch keine Menschen mehr unterwegs sind. Das Essbarste sind: andere Menschen. Und weil Vater und Sohn das nicht machen wollen, müssen sie von der Straße, sobald sie von ferne näherkommende Menschen sehen. Jeder Andere ist eine Bedrohung, selbst die Nicht-Kannibalen berauben sich gegenseitig – und es ist schwer zu sagen, was entsetzlicher ist: das komplette Fehlen von Mitgefühl oder das armselige Diebesgut in Form einer Lampe oder einer halbwegs wasserdichten Plane.

Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt
Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt

Action gibt es wenig. Womit auch? Vater und Sohn haben einen Revolver mit zwei Patronen, die Menschenfresser Messer, Latten, Keulen mit Nägeln, Schusswaffen sind rar (weshalb als Schauplatz die USA eigentlich ausscheiden). Konflikte löst man durch Verstecken und Davonlaufen. Der Gegner sind die anderen Menschen und die Welt, die so unbewohnbar ist, dass man die wenigen brauchbaren Verstecke schnell wieder verlassen muss, weil sie gerade wegen ihrer Brauchbarkeit binnen Kürze andere Menschen anziehen würden. Faustregel: „Man darf nicht an einem Ort bleiben.“


Beiläufiger Horror


Manu Larcenet, der schon „Brodecks Bericht" kongenial bebilderte, illustriert diesen hoffnungs- und ausweglosen Horror mit geschickter Beiläufigkeit. Die Spuren der Gewalt, des Todes, der wiederholten Plünderung bis zum letzten essbaren Krümel sind zwar allgegenwärtig, aber Larcenet erhöht ihre Wirkung mit einem simplen Trick: Er betont stattdessen die menschenfeindliche Umwelt, die ewige Dunkelheit und Kälte, bis das Auge selbst die abstoßendste Spur von Menschen beinahe erholsam findet. Farbe gibt es allenfalls in homöopathischen Dosen, und bei besonderen Anlässen: etwa einer Dose Cola.

Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt
Illustration: Manu Larcenet/Cormac McCarthy - Reprodukt

Und dann, nach etwas über 150 entsetzlich guten Seiten? Man rätselt beeindruckt. Als feuchter Traum der Prepper-Szene taugt der Comic nicht, die angelegten Vorräte finden bestenfalls andere Überlebende und sind auch sonst viel zu attraktiv für tödliche Konkurrenz. Eine Öko-Mahnung? Weil der Mangel im Menschen nur das Schlimmste hervorbringt? Aber die Menschen reagieren ja schon jetzt heftig, wenn man nur ein Schnitzel weniger pro Woche andeutet. Und trotzdem: „Die Straße“ lässt einen unmöglich kalt. An der Lehre daraus knabbere ich selber noch:

Auf die Welt aufpassen?

Keine Leute töten?

Keine Leute essen?

Finden Sie's raus!

 


 


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