- 18. Okt.
Ausbeutung, Armut ohne Ausweg: Scheinbar schäbige Fäden verwebt der Iraner Mana Neyestani zum raffiniertesten Action-Spektakel seit langem

Sagen wir’s offen: Es gibt Themen, da hat man von Anfang an keine Lust. Wie Hausaufgaben. Akkordeonstunden. Gymnastik. Rentenpolitik. Nahostscheiß. Doch man kann aus sowas auch irrsinnig gute Comics machen. Und nur, damit Sie das richtig einsportieren können: Das kommt jetzt nicht von Mutti, die Ihnen zerkochtes Gemüse als supergesund anpreist. Sondern von mir, dem Freund aller fetten Bratwürste!
Was höre ich da? Dann können die Themen nicht so schlimm sein? Aber sicher sind die furchtbar! Wie hier. Sehen Sie selbst!
Habenichtse mit Hungerlohn
Ich sag nur: Grenzgebiet zwischen Iran und Irak. Geht schon scheiße los, oder? Interessiert doch keine Sau. Wird aber noch scheißer: die Leute, die da an der Grenze schmuggeln. Irgendwie so Kurden. Haben nix, arbeiten für einen Hungerlohn. Und wenn wir schon dabei sind, der Comic ist auch noch schwarz-weiß. Das kann nichts mehr werden, oder? Hab ich auch gedacht. Und ich lag sowas von daneben.

Denn Neyestani entwickelt hier ein Spektakel, wie ich es seit der brasilianischen Slum-Sensation „City of God“ nicht mehr gesehen habe. In „Papiervögel“ trifft sich die Schmugglertruppe eines Dorfs für einen Auftrag. Wir lernen sie alle kennen: Den kleinen Dicken, den Lustigen, den Alten, den Frechen, den Studierten. Und den Chef, der den Auftrag ranholt. Und dafür auch noch einen Jungen aufs Auge gedrückt kriegt. Sein Vater wurde von den Grenzern erschossen, und die Mafia ist so fürsorglich, dem Jungen die Arbeit seines Vaters aufzuhalsen. Der Junge ist, das nur nebenbei: gerade mal zwölf.
Ausbeutung mit Bartpflege
Schon bis hier schlägt sich Autor Mana Neyestani ausgezeichnet. Mit dem zähen Humor der Habenichtse entschärft er die drohende Depri-Stimmung. Doch schon dem Mafioso verleiht er eine Eiseskälte, indem er ihn beim Verteilen der Aufträge mit etwas noch Wichtigerem beschäftigt: Er kämmt im Auto-Rückspiegel seinen Bart.

Dann zeigt er die aberwitzige großen Pakete, die die Männer sich im Kampf um jeden zusätzlichen Groschen aufhalsen. Um sofort den Irrsinn zu toppen: Die Standardroute wird von Grenzern überwacht. Die Ausweichroute geht über einen verschneiten Berggipfel und ist sogar ohne Grenzer lebensgefährlich.
Nahost-Alltag goes Survivalthriller
Die Spannung, die Mana Neyestani jetzt herausholt, den Survivalthriller, den er entwickelt und so souverän wie mitreißend abbrennt, ist unglaublich. Doppelt sogar, denn sein Zeichenstil wirkt so harmlos, erinnert an Quino („Mafalda“), an Jules Stauber, wer erwartet hier schnell geschnittene Action, tödlich zugespitztes Drama? Aber das ist nur eine Seite der Goldmedaille: Mindestens ebenso gekonnt verwebt Neyestani die Schicksale, im Wortsinn.

Denn zuhause wartet die Tochter des Chefschmugglers, teppichwebend will sie sich die Freiheit verdienen, mit einem Schmugglerkollegen, den sie heiraten will – anstelle des für sie vorgesehenen Bartpflegemafiosos.
Mal brutal-nüchtern, mal herzzerreißend
Spoilern mag ich hier nicht, aber ich war am Schluss absolut platt. Kluge Details, exakt getrimmte Dialoge, die Performance ist mal brutal-nüchtern, mal so herzzerreißend, dass der Atem stockt – und hinterher hat man auch noch allerhand gelernt. Zum Beispiel auch, was diese armen Schweine in dieser Nische der Weltwirtschaft da so irrsinnig Profitables schmuggeln. Sie werden’s nicht glauben.
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- 11. Okt.
5 Mangas in 5 Minuten (2.4): Mit klugen Mädels, gedrucktem Wrestling, Giftmischerei, Roboter-Radau und Verbotener Liebe

Wurmkur
„Wie oft noch?“ ist die falsche Frage: Ein Milliardenmarkt wie der des Mangas beutet Erfolgsrezepte noch konsequenter aus als andere Kunstbereiche. In „Kaoru & Rin“ haben wir deshalb: eine Versagerschule, die direkt neben der Genieschule steht. Superarsch aus der Versagerschule trifft Süßmädel aus der Genieschule (so weit, dass das Süßmädel die Versagerin sein könnte, sind wir wohl erst in zwei Jahren). Jetzt: der übliche Anbahnungs-Schmu, aber in der Form für Doofe, in der’s uns dauernd wer schriftlich denkt „Will sie was von mir?“ bzw. „Aber warum will er was von mir, wenn er was von mir will?“ und „Kann es sein, dass sie was wollen mögen könnte?“ Sobald das durch ist, kommt die geheimnisvolle Konkurrentin und blablabla. Nein, die Frage ist nicht „Wie oft noch?“ Sondern: „Warum so doof“? Aber der Wurm muss natürlich dem Fisch schmecken.
Gefeuerte Menschheit

In „Record of Ragnarok“ (und der Realität) hat’s die Menschheit verkackt. Alle 1000 Jahre, weiß man ja, wird der Vertrag der Menschen verlängert – oder eben nicht. In Walhalla kommen dazu alle Götter aller Religionen zusammen (bis auf den einen und den anderen) und voten für „Vernichten“. Nur die Walküre Brünhilde nicht, die der Menschheit eine Chance geben will: ein 13faches Duell „Menschen gegen Götter“. Denn bekanntlich wird die Bilanz der Menschheit besser, wenn man 13 Dödel findet, die sich mit Göttern kloppen. Vor allem, wenn einer davon Jack the Ripper ist. Egal: Was folgt ist ein endloses gedrucktes Wrestling-Match. Einer kommt rein, trararaaa, in der linken Ecke Superhinz, und dann kommt ein anderer rein … träräää... Gottkunz! Und dann whambam, oh nein, jetzt macht er dies, oh ja, jetzt macht der andere das. Wie klug! Wie gefährlich! Wiewurst. Ist das so schlimm, wie es klingt? Anfangs in Walhalla nicht, da hat’s ein, zwei reizvolle Momente. Danach schon.
Qualitätsverwurstung

Das nenne ich mal effizient: ein Schrein. Eine schöne Priesterin. Ein Wächter für die schöne Priesterin, denn: Dämonen wollen die Priesterin haben und das Schwert im Schrein. Gefahr, check. Der Wächter kennt die Priesterin seit seiner Kindheit, beide sind furchtbar verliebt, aber – die Priesterin wird einen anderen heiraten, weil’s das Dorf so will. Drama, check. Der Wächter hat noch eine Schwester, die klein aussieht, aber schon 17 ist und wohl selbst ein bisschen Dämon. Geheimnis, check. Und das auftauchende Dämonendoppel kriegt ein paar Sätze, die cleverer sind als der übliche Rumsdibums. Dazu überdurchschnittliche Zeichnungen, nicht ganz so viel Soundwort-zeigt-was-eh-im-Bild-ist wie sonst, fertig ist „Kijin Gentosho“, eine rundum ordentliche Verwurstung aus der Light Novel-Anime-Crossover-Fabrik. Warum nicht öfter so?
Spinnenbeine unterm Mundschutz

Wenn’s um Irre geht, ist der Manga nicht zu schlagen. Auf den ersten Seiten von „Marriage Toxin“ begegnen wir einem Leiharbeits-Magnaten, der bei der Hochzeit seiner Tochter alle Gäste auf halbnackten Leiharbeitern sitzen lässt. Er raucht fünf Zigaretten zugleich, die er seinem Sitzsklaven in die Hand rammt. Held der Story ist ein Giftkiller, der öfter gegen Glastüren rennt. Sein bester Kumpel: der „Insektenmeister“, der einen Tausendfüßler im Gesicht hat und unter dessen Mundschutz haarige Spinnenbeine vorkrabbeln. Ich war begeistert, doch der Hauptplot ist nicht ganz so irre: Giftmix braucht eine Braut, damit sein Klan weiterexistiert – ist aber schüchtern. Just in dem Moment soll er eine Heiratsschwindlerin töten. Sein Kompromiss: Sie soll ihm helfen eine Frau zu finden, und ab da kommt zur Action ein Datingmarathon. Ich geh mal davon aus, dass die Schwindlerin viiiiel später zur Auserwählten wird, oder zum Auserwählten, denn sie ist natürlich ein Kerl. Was soll's, bis dahin ist der Kessel Chaos auf jeden Fall nicht fad!
Aus der Spielzeugfabrik

Prinzipiell ist „Mobile Suit Gundam“ prima. Wir sind in der Sorte Zukunft, in der riesige Roboter von drinsitzenden Menschen gesteuert werden. Was kann man da erwarten? Raumschiffe, Zweikämpfe, Feuerkraft. Wenig Logik, denn Militärs wählen statt Raumschiffen nur dann haushohe Roboter, wenn das Drehbuch von einer Firma kommt, die Spielzeugroboter verkauft. All das in billiger Merchandise-Trickfilm-Optik, aber, schöne Überraschung: Die Zeichnungen sind nuancenreicher als die trashige Anime-Serie, aufregend geschnitten, sehr realistisch, besonders mangaartig sind nur die Gesichter. Wo ist dann das Problem? Vielleicht bin ich’s selbst. Ich kann der Action kaum folgen. Immer wieder weiß ich nicht, wer was macht. Natürlich sehen die Roboter unterschiedlich aus. Aber bei Nahaufnahmen – wem gehört jetzt welcher Arm? Wer hat was abgefeuert? Weiß man das nicht, ist man dauernd am Zurückblättern. Aber wer geistig beweglicher ist, kriegt hier erstklassigen Radau.
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- 8. Okt.
Die Outtakes (32): Mit einem schaufelnden Superhelden, klatschnassen Regenwäldlern und einer nahöstlichen Momentaufnahme

Fledermaus im Untergrund
Wunder gibt es immer wieder, aber nicht dauernd: Die häufig großartige Mariko Tamaki hat sich 2021-2022 federführend meines alten Lieblings Batman angenommen, aber auch sie hat aus dem dunklen Ritter nichts Besonders und, leiderleider, noch viel weniger was Zeitgemäßes hervorgezaubert. Batman ist offenbar grad nicht mehr so reich (was okay ist), aber dass er sich selbst im Alleingang mit der Spitzhacke seine Bathöhlen in die Kanalisation maulwurft, ist schon mal herzlich blöd. Der Rest ist Business als usual, Batman befasst sich mit allem, was kein richtiges Problem ist. Denn, nur fürs Protokoll, 2021 haben wir gerade vier Jahre Trump hinter uns und eine reale Pandemie. Und Batman jagt Mutanten, den bemonokelten Pinguin und erzählerische Notlösungen wie Lady Clayface? Wen soll das interessieren?
Kinderlos im Regenwald

Einerseits mag ich Bastien Vivès’ Serie „Honeymoon“, weil sie so unbekümmert ist. Wegen des dezidiert dämlichen Kniffs, dem Helden-Ehepaar Sophie und Quentin zwei Kinder anzudichten, die a) nie auftauchen, weil sie b) praktischerweise bei der Oma sind oder sonstwo – denn sonst könnte man das Paar ja nicht wieder in ein haarsträubendes Abenteuer stürzen. Diesmal im Regenwald, mit geheimnisvollen Tempeln, Rebellen, Schlangen, was sich eben so seit 60 Jahren Kino/Comic in der Klischeekiste angesammelt hat (aber ehrlicherweise seit Indiana Jones eh nur noch persifliert verwendet wird). Allerdings rumpeln die Beiden schon ein wenig arg mechanisch von einer Gefahr in die nächste, und zwar so lange, bis das Album voll ist. Das könnte auch noch 20 Seiten so weitergehen oder zehn Seiten eher enden. Man gönnt Vivès den Spaß, den er erkennbar beim Draufloszeichnen hat. Und ich muss zugeben: Schon lang hab ich mich nicht mehr allein vom Lesen so triefend durchgeregnet gefühlt.
Einblicke ins Irrenhaus

Eine großartige Initiative, erfreulich unvoreingenommen umgesetzt: „Wie geht es dir“ begann im Netz als Comic-Interviewserie. Auf je einer Seite illustrieren namhafte Comic-Autoren ihre Gespräche mit Betroffenen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Juden, Moslems, Palästinenser, Israelis in/aus Nahost und Deutschland. Auf beiden Seiten gibt es Verzweifelte, Leute ohne Dachschaden. Comictechnisch ist all das nach wie vor aktuell und bereichernd, von vielen Künstlern lernt man unbekanntere Seiten kennen. Und doch stellt sich mit jedem neuen Interview nach zwei Jahren die bittere Frage, ob inzwischen nicht schon wieder eine „Nachgehakt“-Ausgabe angebracht wäre. Die sich erkundigt, wie einverstanden die Befragten aller Seiten mit dem verheerenden Stand der Dinge sind (wovon die in Echtzeit arbeitenden Autoren nicht ausgehen konnten). Es hätte allerdings nicht geschadet, auch extremere Vertreter nach ihrer Motivation zu befragen. Schon um zu zeigen, mit welchen Hürden die Leute kämpfen, die bei Verstand geblieben sind. Warum bei den Outtakes? Weil das Projekt hier schonmal vorgestellt wurde, als es noch lediglich online stattfand.
