Mutiger Start einer Mammutaufgabe: Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz wagen die Graphic Biography zum Musikpionier Karlheinz Stockhausen
Musik in Comics: Immer schwierig, weil man mit den Augen nicht so gut hören kann. Aber tatsächlich gibt es ein nahezu perfektes Vorbild: Als in den 70er Jahren die Band Kiss durch die Decke ging, veröffentlichte Marvel den passenden Comic, in dem die komplette Band durch ein Zauberkistchen in ihre Alter Egos verwandelt wird, den Dämon, den Catman, den Spaceman und das Sternenkind, und die dann – bitte?
Was das mit Musik zu tun hat?
Ja, wenig bis nichts.
Aber das Phänomen Kiss bestand ja auch nur zu ungefähr 30 Prozent aus Musik und zu 70 Prozent aus Faszination, weshalb der Cover-Aufdruck „Printed in real KISS blood!“ sogar recht zutreffend war. Das machte die Sache für Marvel so einfach und macht die Aufgabe für Thomas von Steinaecker so tricky.
Das Bohren eines dicken Bretts
Von Steinaecker hat sich nämlich Karlheinz Stockhausen vorgenommen. Der ist zwar weltberühmt als Kompositions- und Elektropionier, besteht aber im Gegensatz zu Kiss zu etwa 98 Prozent aus Musik. Erschwerend kommt hinzu: es ist Musik, die eine Menge Leuten für wenig bis kaum genießbar halten. Ein echt dickes Brett also. An solchen Brettern sind schon viele Bohrer gescheitert. Manche mit Pauken und Trompeten wie Michael Allred mit David Bowie, manche ehrenvoll wie Reinhard Kleist mit Nick Cave.
Aber der von Steinaecker ist ja ein Guter, das macht das Projekt wiederum so spannend. Seinen einfühlsamen Alterscomic „Der Sommer ihres Lebens“ kann man nicht oft genug loben. Und ähnlich wie dort mit Barbara Yelin hat er sich diesmal mit David von Bassewitz einen sehenswerten Zeichner gesichert. Der – was dem Projekt gut tut – kein Stockhausen-Fan ist. Wobei auch von Steinaecker um die Gefahr eines Nerd-Fan-Comics von Anfang weiß. Er begegnet ihr offensiv.
Geschickter Umweg über zwei Fan-Boys
Von Steinaecker eröffnet das Buch mit seiner eigenen Kindheit, damit, wie er und sein Bruder Stockhausens Musik entdecken. Das ist doppelt geschickt: Erstens nehmen die beiden Fanboys dem Thema das Bierernste, zweitens kann er von hier elegant in Stockhausens sehr erzählenswerte Kindheit überblenden.
Ein Junge in der Nazizeit, mit einer geistesgestörten Mutter, die denn auch in ein Heim kommt. Dort stirbt sie an einer Lungenentzündung (hinter der sich vermutlich ein Euthanasieprogramm verbirgt). Der junge Stockhausen wird im Krieg nicht Jungsoldat, sondern Jung-Sanitäter, sieht entsetzliche Verletzungen, wie verwundete Kriegsgefangene einfach erschossen werden, damit ein Bett für Deutsche frei wird, ein spannendes, manchmal bitteres Leben, tadellos erzählt – allerdings aus einer Zeit, in der viele Leben ähnlich spannend waren. Die Nagelprobe ist und bleibt: die Musik.
Aus dem Klavier kommt das Flugzeug
Da zeigt sich der junge Stockhausen früh talentiert, früh befähigt, Musik über das Klavier hinauszudenken, Tiefflieger musikalisch nachzuahmen. Von Bassewitz illustriert das, indem er etwa das Flugzeug zu roten Krakeln zerfasert und diese Krakel über das Bild legt. Die Rechnung geht auf, auch weil der Leser weiß, wie ein Flugzeug klingt und wie ein Klavier. Das wird später schwieriger.
Stockhausen konzentriert sich auf die Komposition, er sucht nach etwas Neuem, nie Dagewesenen, hat öfter mal Geistesblitze – aber hier folgt ihm der Nicht-Fan allmählich weniger neugierig. Muss man weiter gehen als Schönbergs Zwölftonmusik? Stockhausen sagt ja, der Laie meint: nicht wegen mir. Stockhausen geht in den 50er Jahren in das berühmte Studio für Elektronische Musik des WDR, er pfriemelt einfallsreich, er erzeugt neue Töne, reproduziert sie, führt sie auf, wird bejubelt und ausgebuht – aber die Faszination überträgt sich nicht zwingend. Ich Frevler dachte sogar als erstes: Das alles zahlt der WDR mit den Rundfunkgebühren? Warum eigentlich?
Ohne Hören geht es nicht
An dieser Stelle hab ich beschlossen, mal einen ganzen Stockhausen anzuhören: nämlich den beschriebenen „Gesang der Jünglinge“. Eine knappe Viertelstunde, die weiterhilft. Man hört eine Klangcollage, zu der sofort Bilder vor dem geistigen Auge entstehen. Und nicht nur das: Wer seine Beatles gründlich gehört hat, das bizarre Ende des „Sgt. Pepper“-Albums kennt oder das rätselhafte „Revolution No.9“, der schreit sofort auf: Das haben die von DEM! Oder „Kraftwerk“, oder all die Remixer, Rapper, Sampler, diese seltsamen Klanginstallationen in Museen… okay: DAS also ist der Stockhausen. Jetzt wird das schon wieder interessanter. Es zeigt aber auch: Den Umweg über das Hören können Steinaecker/Bassewitz dem Leser nicht abnehmen.
Ab hier werden die Probleme leider nicht kleiner: Die Musik nimmt in Stockhausens Leben immer mehr Raum ein, je besser er von ihr leben kann. Stockhausens immer neue Problemstellungen werden immer kleinteiliger, weshalb sie dem Nicht-Fan wie Luxusproblemstellungen vorkommen. Stockhausens Leben, gerne mit zwei Frauen geteilt, tritt erzählerisch in den Hintergrund. Der Komponist reist durch die Welt, trifft Leute, ja mei, sagt da der Münchner.
Ikonenartig wie ein Büsten-Lenin
Das Schwinden der Bindung kann nun auch der junge Thomas von Steinaecker kaum noch verhindern. Zusätzlich scheinen auch von Bassewitz‘ Zeichnungen an Distanz zu verlieren, immer häufiger begegnet Stockhausen dem Leser in leichter Untersicht, ikonenartig in eine neblige Zukunft blickend wie ein T-Shirt-Che oder ein Büsten-Lenin. Weil die Musik immer besser wird? Immer gottgleicher? Der Laien-Leser kann das nur vermuten, und hier stößt man auch mit Nachhören an seine Grenzen.
Comic und Musik. Selten eine Symbiose. Steinaecker/Bassewitz schlagen sich tapfer, kommen auch erstaunlich weit, finden aber letztlich nur eine erst mehr, dann zunehmend weniger überzeugende Lösung. Andererseits: Ich hab Stockhausen angehört und gar nicht schlimm gefunden, das wäre ohne den Comic nicht passiert.
Sagen wir: unentschieden?
Mittendrin statt nur dabei: Bittersüß und kitschfrei bringt die Graphic Novel „Der Sommer ihres Lebens“ ihre Leser verblüffend nahe an Tod und Alter
Große, große, große Barbara Yelin. Ich krieg mich kaum noch ein. „Der Sommer ihres Lebens“, heißt das Werk, und ich muss sagen: Hammer. Was auch daher kommt, weil das bei Barbara Yelin nicht immer selbstverständlich ist. Beziehungsweise: Weil Barbara Yelin die Messlatte vom Start weg so hochgeschraubt hat, dass sie sie danach auch öfter mal reißen musste. 2010 war dieser Start, mit „Gift“.
„Gift“ war entsetzlich guter Trübsinn: Die Geschichte der Serienmörderin Gesche Gottfried, Peer Meter hatte ihr das Szenario geliefert, und sie hatte es mit dem Bleistift umgesetzt, eine schwarz-grau-neblige Ballade aus dem protestantisch-freudlosen Bremen des Jahres 1831. So bitter, dass man sie besser nur im Frühling lesen sollte. Mit schlackernden Ohren hab ich dann auf mehr von Frau Yelin gehofft, aber so gut habe ich sie nie wieder gefunden, seither. Also: Inhaltlich, weil zeichnerisch ist sie über jeden Zweifel erhaben und immer wieder erstaunlich wandelbar.
So gut war Yelin lange nicht mehr
2013 lieferte sie die Cartoonserie „Riekes Notizen“, bunt, lebhaft, aber leider mochte ich den Humor nicht so. 2014 kam „Irmina“, eine Frauen-im-Dritten-Reich-Geschichte aus den 30er Jahren, optisch wiederum überzeugend, aber nicht recht zupackend erzählt. Und Yelins BioGraphic Novel über die Schauspielerin Channa Maron mochte ich mir zwar jederzeit ansehen, aber lesen, naja, Max-und-Moritz-Preis hin oder her. Dann jetzt: „Der Sommer ihres Lebens.“ Was für ein Pfund!
Die Geschichte handelt von Gerda Wendt, die in einem Seniorenwohnheim lebt. Und die sich fragt, ob es das jetzt war, und wenn ja: Was „das“ dann gewesen ist. Was Gutes? Was Schlechtes? Mit diesem Bisschen an Inhalt füllt Yelin 80 Seiten, die deshalb so grandios sind, weil sie zusammen mit dem Autor Thomas von Steinaecker immer ganz aufs Ziel fixiert sind: Das ziemlich normale Altern zu schildern, das Leben auf der Zielgeraden, das mit etwas gesundheitlichem Glück bei uns allen nicht schlimmer aussehen wird, sondern genau so.
Die Zielgerade des Lebens
Gerda kann mit dem Rollator gehen, sie ist körperlich wacklig, aber erträglich beieinander. Sie ist klar im Kopf, aber sie denkt in kurzen Sätzen, sie hat Probleme, die Stockwerke des Heims auseinanderzuhalten: Oft wirkt Gerda, als lebe sie in einer Art Nebel, weil der gebrechliche Körper ihr immer wieder die Klarheit des Hier und Jetzt unterbricht. „Oft denke ich, ich bin bereits tot“, schildert sie diese eigenwillige Zwischenwelt, „trotzdem will ich jetzt wieder öfter an früher denken. Ich spüre dann, ich lebe noch.“
Früher war Gerda ein aufgewecktes Mädchen, mit Interesse für Zahlen. Sie hat sich durchgesetzt, sie ist Astrophysikerin geworden, hat sich verliebt, eine Tochter bekommen und sich später von ihrem Mann getrennt. Ein ganz normales Leben, mit einem ganz normalen Alter.
Altern ist schwer, aber niemand ist schuld
Sie hat keine größere Krankheit, ihr fällt einfach nur jeder Schritt schwer. Gerda braucht jeden Tag Hilfe: Sie wird geweckt und gewaschen und betreut. Wer Angehörige in diesem Alter hat, erkennt an den Pflegerinnen mit ihrem freundlich-furchtbaren Schwäbisch, dass Gerda durchaus in einem recht guten Wohnheim wohnt. Auch das ein wichtiger Punkt, der den Comic mit seinem oft drückenden Thema so außerordentlich erträglich macht: Es geht von Steinaecker und Yelin nicht darum, irgendwem Schuld zuzuschieben. Es geht nicht darum, wie oft Tochter und Enkelin zu Besuch kommen – es geht nur darum, wie Gerda damit umgeht, dass sie einmal ein Leben hatte, ein richtiges, pulsierendes, und wie sie die Tatsache bewältigt, dass sie bald gar kein Leben mehr haben wird.
Konsequent spielen Yelin/Steinaecker zu diesem Zweck die Gegensätze aus: Gerda im Campingurlaub als Kind, Gerda, die sich Anerkennung und eine Assistenzstelle erarbeitet, die glücklich die Liebe in ihr Physikdeutsch übersetzt, die sich für ihren Mann gegen eine Stelle im Ausland entscheidet – diese Momente waren und sind genauso real wie es nun die tägliche Bitte der Pflegerin ist, Gerda möge doch die Arme „noch a Stückle höher“ nehmen, „wie wenn Sie fliege wollet“. Der starke Moment auf dem Cover ist nur ein Beispiel für diese bittersüßen Momente: Wir sehen oben das offene Fenster in der Mansarde, durch das wir hören, wie Gerdas späterer Mann ihr auf der Gitarre die Beatles vorspielt, der Blick geht hinaus, auf den Baum vor dem Haus und endet unter den Blättern neben dem Stamm bei Gerda, die vor ihrem Wohnheim steht. Ihr Blick zeigt uns dabei das Staunen, das wohl alle Menschen in dieser Situation gleichermaßen ergreift: Wenn diese beiden Momente real sind, warum ist es dann so unmöglich, zu dem schöneren zurückzukehren?
Druckversion schlägt Webcomic-Variante
Erstmals erschienen ist die Geschichte 2015, online, als 15-teiliger Webcomic bei 114, dem Onlinemagazin des S. Fischer Verlags – warum, ist nicht ganz einsichtig. Auf dem PC-Bildschirm bleibt von der Wirkung der Bilder wenig übrig, auf einem großen hochkant gehaltenen Tablet allenfalls etwas mehr, auf dem Handy praktisch nichts. Tatsächlich funktioniert der Comic erst jetzt richtig, weil gerade die ganzseitigen Illustrationen und die Umblätter-Momente gedruckt ihre eigentliche Wirkung entfalten können. Ich kann diesen Comic nicht genug empfehlen. Die einzige Einschränkung: Er schlägt vermutlich eindrucksvoller ein, wenn man deutlich jenseits der 30 ist.
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.