Aufregend, spinnert, liebenswert: Emil Ferris‘ Debüt „Am liebsten mag ich Monster“ verrührt Grusel-, Kunst- und Krimi-Elemente zu einem Comic-Thriller mit „Stand by me“-Zauber
Es hat zwei Ignatz Awards gebraucht, drei Eisner-Awards, noch viel mehr Nominationen und Erwähnungen auf Bestenlisten, bis ich es irgendwann auch geschnallt habe, dass ich in „Am liebsten mag ich Monster“ mal einen Blick reinwerfen sollte, obwohl ich von diesem Emil Ferris vorher noch nie was gehört habe. Dann google ich ihn und es stellt sich raus: Ist ‘ne Frau. War ja klar gewesen. Wenn schon ahnungslos, dann richtig.
Hübsch gefaketes Tagebuch
Ich klappe also den quellekatalogdicken Wälzer auf und der erste Eindruck ist: nett. Sehr nett sogar und niedlich dazu. Ich halte ein gefaktes Ringbuch in den Händen. Alle Seiten sind liniert, Löcher zum Raustrennen und Abheften inklusive. Manchmal sind Fotos und Schnipsel dazu geklemmt – die dicke Kladde gehört Karen Reyes.
Karen ist zehn Jahre alt und lebt in den 60er Jahren in Chicago. Sie liebt Monstergeschichten, sie zeichnet regelmäßig die blutrünstigen Heftcover ab, die sie von ihrem großen Bruder Deeze kriegt. Und sie zeichnet überhaupt ziemlich viel: Karen hat nicht viele Freunde und wird in der Schule gehänselt, sie ist viel allein und hält sich selbst auch für eher hässlich, nicht zuletzt deshalb träumt sie davon, selbst ein Monster zu werden. Dieser Hintergrund soll natürlich erklären, warum Karen so gut zeichnet, ist aber wahrscheinlich ein wenig geschummelt. Was mir aber nichts ausmacht, weil das Ergebnis vom Start weg so großartig ist.
Ein atemberaubend schraffierter Mob
Emil Ferris‘ Metier ist das Schraffieren, und was sie mit dem simplen Übereinanderlagern von Gittern und Linien macht, da bleibt einem die Luft weg. Nichts als schwarze Striche auf weißem Papier, und Ferris zaubert daraus gleich zu Beginn eine wunderschön plastische Abfolge, wie sich Karen in ihrer Fantasie zum Monster verwandelt. In einem Chicago, dessen Häuser und Perspektiven an Denys Wortmans New York erinnern, mit düsteren Hausfassaden und fratzenbesetzten Portalen, verfolgt von einem ziemlich garstigen Mob, den Joe Sacco oder Robert Crumb geliefert haben könnten, auch weil die Meute nicht nur Fackeln schwingt, sondern auch ausgesucht schönen Blödsinn wie Burgerwender, Bügeleisen oder Telefonhörer.
Es geht so skurril los, wie man es von einem Mädchen erwarten kann, das bizarre Valentinskarten bastelt, bei denen aus Makkaroni rote Lebensmittelfarbe blutet. Ihr großer Bruder hilft ihr so lässig dabei, dass man unwillkürlich bedauert, nie selbst so einen großen Bruder gehabt zu haben, und zusammen halten sie ihre abergläubische Mutter in Schach, die hinter ihrer Schmetterlingsbrille hervor verkündet, man dürfe nicht mit einer Katze im Arm fotografiert werden oder sich nach Einbruch der Dunkelheit kämmen. Und dann greift Ferris mutig in die Zutatenliste und lässt den geheimnisvollen Tod der schönen, aber spinnerten Nachbarin Frau Silberberg stattfinden.
"Stand by me" meets "Das Haus der Krokodile"
Karen skizziert das gesamte Haus mit seiner verschrobenen Einwohnerschaft, dem verlotterten Mr. Chugg mit seinen Bauchrednerpuppen, dem kriminellen „Lachenden Jack“ Gronan, einem mysteriösen verschlossenen Keller, und all diese Anhaltspunkte komponiert das inzwischen in Schlapphut und Trenchcoat (vom Bruder geborgt) ermittelnde Detektiv-Monsterchen zu ebenso verwirrenden wie erfrischenden Seiten, Doppelseiten, Anmerkungen, in die man sich mit Freuden und gar nicht mal so wenig Grusel hineinversenkt, ein ungewöhnlicher Mix, ein bisschen wie „Stand by me“ und „Das Haus der Krokodile“ (aber die alte Version).
Mit bewundernswerter Leichtigkeit eröffnet Emil Ferris tiefste Abgründe, die Vergangenheit der toten Mrs. Silberberg führt zurück in das Berlin der 20er Jahre, die Ferris mit einer fantastischen Doppelseite aus Straßenszene und Passantenstudien krönt, das Portrait einer vom Krieg verwirrten Stadt mit ihren verstörten und vernarbten Einwohnern, brillant und brutal zugleich. Kann sowas eine Zehnjährige wissen? Warum nicht: Deeze und Karen gehen immer wieder ins Museum, ganz beiläufig liefern sie dabei auch einen Streifzug durch die Kunstgeschichte, und außerdem: Wen juckt’s?
Die hohe Schlagzahl ist kaum durchzuhalten
Übrigens stimmt’s vielleicht: „Am liebsten mag ich Monster“ ist stark autobiographisch, und Ferris erzählt von sich selbst, dass sie bereits mit zwei oder drei Jahren zu zeichnen angefangen hat. Die heute 55-Jährige hat lange als freie Grafikerin und Illustratorin gearbeitet, „Am liebsten mag ich Monster“ ist ihre erste Graphic Novel. Auch das könnte der Grund dafür sein, dass nach etwa drei Vierteln das Niveau spürbar nachlässt.
Alles andere wäre wohl auch erstaunlich: Die Schlagzahl ist kaum durchzuhalten.
Die Zeichnungen werden weniger akribisch, weniger einfallsreich, und leider hat Ferris auch die zuvor so wundervoll aufgefaserten Handlungsstränge nicht mehr so souverän im Griff. Die Fäden werden ziemlich konventionell abgearbeitet, manchmal sogar arg gefühlig, wie man es von US-Weihnachtskomödien kennt, die nach boshaft-bissigen Anfängen oft unschön versöhnlich-harmlos enden. Diese nachdenklichen Dialoge mag man dann gar nicht mehr so recht bei einer Zehnjährigen verorten. Aber: Das alles wirkt vor allem deshalb so blässlich, weil Ferris vorher so lange ein Ideen-Feuerwerk abgefackelt hat. Werd ich mir den nächsten Band von ihr zulegen? Auf jeden Fall!
Emil Ferris, Am liebsten mag ich Monster, Panini, 39 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Weil es die Großverlage nicht tun, veröffentlichen deutsche Liebhaber Comics aus dem Ausland selbst in Profi-Qualität. Das Ergebnis macht sie nicht arm, nicht reich, aber glücklich
Sie sind unzufrieden mit den Comics, die es zu kaufen gibt? Sie waren im Urlaub in Italien, in Frankreich, in den USA, und Sie haben dort Comics gesehen, die es leider nicht auf Deutsch gibt? Sie haben eine Lieblingsserie, aber die ist nach drei Bänden plötzlich eingestellt worden, weil es den großen Verlagen letztlich doch nur ums Geld geht? Dann ändern Sie das doch: Veröffentlichen Sie einfach das, was Sie wollen. Das ist im Comic-Bereich leichter möglich, als man denkt.
Mein Comic ist Hase
Vor mir liegt beispielsweise ein Band der exzellenten Serie „Usagi Yojimbo“. Der Amerikaner Stan Sakai zeichnet die Abenteuer des Samurai-Hasen Usagi, eine raffinierte Hommage an das mittelalterliche Japan, in der ein Hase sehr ernsthaft andere mickymaus-artige Tiere massakriert, nach allen Regeln der Kunst, mit seinen zwei Schwertern, dem Katana und dem Wakizashi, über die man nebenher genauso viel erfährt wie etwa über die Teezeremonie. Seit über 30 Jahren erscheint die US-Serie bei namhaften Verlagen wie Fantagraphics oder Dark Horse. In Deutschland erschien sie mal bei Carlsen, mal beim Schwarzen Turm. Jetzt veröffentlicht die Serie ein Krankenpfleger aus Mannheim.
Kein Ex-Krankenpfleger, wohlgemerkt: Josch Dantes arbeitet noch immer im Krankenhaus. Aber weil er die Serie liebt und mit der Veröffentlichungspolitik der bisherigen Verlage nicht zufrieden war, sicherte er sich die Rechte selbst. „Ich hab den US-Verlag einfach hartnäckig angerufen“, erzählt er, „bis ich beim Verleger war. Ich hab denen gesagt, wie ich das machen möchte. Und die haben mir die Chance gegeben.“ Es gab einen Probelauf, bei dem Dantes zwei Hasenbände unter dem Dach des Schwarzen Turms betreute, seitdem gibt er die Abenteuer in seinem eigenen Verlags heraus. So, wie er das als Leser selbst gerne hätte: neu übersetzt und nicht hin und wieder, sondern Schlag auf Schlag, alle zwei Monate einen weiteren Band, in der Originalreihenfolge, in professioneller Qualität.
Das Ergebnis sieht nicht aus wie von einem Krankenpfleger herausgegeben, sondern wie von jedem anderen seriösen Verlag. Angst hatte er dabei nicht: „Ich hab das vorher durchkalkuliert: Wieviel kann man verkaufen, was darf es mich kosten und was den Leser? Ich hab eine knapp fünfstellige Summe in die ersten beiden Bände investiert, aber es ist alles aufgegangen, ich hab nach einem Vierteljahr sogar 200 Euro übrig gehabt.“ Seither macht der 36-Jährige weiter, furchtlos, mit kleinen Auflagen. Inzwischen hat er sogar zwei weitere Serien im Programm, die er genauso liebt: „Slaine“ und „Gravel“, beide haben eine deutsche Misserfolgsvergangenheit, beide feiern ein kleines Comeback und machen den Verleger weder reich noch arm, doch dafür glücklich.
Es geht auch mit weniger Risiko
Aber was ist, wenn man nicht den Mut oder die Ersparnisse für fünfstellige Investments hat? Auch kein Problem: Man gründet einen Verlagsverein. Oder einen Vereinsverlag? Finix heißt das inzwischen über zehn Jahre alte Projekt, ein Kind des Internets, das aus dem Comicforum hervorging. Enttäuschte Freunde frankobelgischer Comicserien fanden zu einander, gruppierten sich um den umtriebigen (und früh verstorbenen) Optimisten Marc Schnackers und hatten letztlich nicht mehr zu bieten als die freundliche Fürsprache des Splitter-Verlags. Damit machten sie sich auf die Suche nach den Lizenzinhabern für die eingestellten Serien. Das Startkapital waren die freiwilligen „Investments“ der Vereinsmitglieder, jeweils nicht mehr als 100 Euro. Und seither läuft der Laden: Zwei bis drei Dutzend Serien wurden inzwischen komplettiert. „Manche laufen richtig gut, wie die Steampunk-Serie Hauteville House“, erklärt Vereins-Chef Oliver Hornig. „Damit machen wir dann Gewinn, mit dem wir die Serien veröffentlichen, die sich die Vereinsmitglieder wünschen.“
Die Wunschliste wird demokratisch erstellt, jedes Vereinsmitglied listet seine Top Ten auf. Das Ergebnis ist ein erstaunlicher Fundus frankobelgischer Qualität, nicht Champions-League-reif wie Asterix oder Lucky Luke, aber auf jeden Fall Bundesliga-Niveau. Mit drin: die sehenswerte Detektivreihe „Dieter Lumpen“, die Abenteuer des sanftmütigen Detektivs „Jackie Kottwitz“ oder die Tarzan-Parodie „King und Kong“, die mir etwas zu eindimensional ist. Aber eben darum geht es: Meine Meinung zählt nichts, die des Marktes genausowenig – „King und Kong“ waren ein Herzensanliegen der Vereinsmitglieder, Finix hat mit vielen Zusatzinfos eine liebevolle Gesamtausgabe hergestellt, bei der von vorneherein feststeht, dass man Miese macht.
Mit 100 Euro sind Sie dabei
200 Mitglieder hat der Verein inzwischen, die mit ihren „Investments“ das wirtschaftliche Risiko auch etwas abfedern: Für die 100 Euro bekommt man die zehn nächsten Alben gratis. Das einzige Problem ist, dass die deutschen Verlage inzwischen auf der Suche nach dem sicheren Absatzmarkt ebenfalls alte Ausgaben bewährter Stoffe entdeckt haben – für Finix engt das die Auswahl rentabler Alben ein. Hier soll jetzt eine Serie um „Die großen Seeschlachten“ einspringen, eine Augenweide für Schiffefans, die der Comic-Markt so bislang noch nicht bedient. Das Prinzip kennt man vom Rennfahrer-Comic oder vom Fliegercomic, für meinen Geschmack hätten’s mehr Schiffsbilder sein dürfen. Aber, wie gesagt: Auf den Kritiker pfeifen, selber machen!
Stan Sakai, Usagi Yojimbo, Dantes Verlag, Bände zwischen 14,95 und 18,95 Euro
Pat Mills, Slaine, Dantes Verlag, je Band zwischen 16 und 32 Euro
Warren Ellis/Mike Wolfer, Gravel, Dantes Verlag, je Band zwischen 15,95 und 19,95 Euro
Jorge Zentner/Ruben Pellejero, Dieter Lumpen, Gesamtausgabe, Finix-Verlag, 39,80 Euro
Alain Dodier/Pierre Makyo, Jackie Kottwitz, Gesamtausgabe, Finix-Verlag, Band 1-7 je 29,80 Euro
Jean-Yves Delitte, Die großen Seeschlachten, Finix-Verlag, je Band 15,80 Euro
Mazel/Cauvin, King und Kong, Gesamtausgabe, Finix-Verlag, je Band 39,80 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Brutal, konsequent, sensibel: Im Endzeit-Thriller „Die Welt der Söhne“ erzählt Gipi seine Lieblingsthemen in Tarantino-Qualität – und liefert so wohl die Graphic Novel des Jahres
So schön gezeichnet wie diesmal hat er noch nie. Und das mit diesen reduzierten Mitteln: Knapp 300 Seiten bestreitet er nur mit etwas, was ein schwarzer Kugelschreiber sein könnte, oder ein sehr dünner schwarzer Filzstift. Er zaubert damit Sonnenaufgänge, zarte Gestalten im Nebel, eine Bootsfahrt im Mondlicht, eine Hütte im See, so dass man die Wellen am Steg leise plätschern hört, erstaunlich gefühlige Momente in einer rücksichtslosen, hässlichen Geschichte aus einer Welt der hemmungslosen Gewalt. Und es sind eben diese Gegensätze, die Gipis neue Graphic Novel „Die Welt der Söhne“ so unglaublich beeindruckend machen.
Die Zivilisation existiert nicht mehr
Genau genommen macht Gipi, der eigentlich Gianni Pacinotti heißt, natürlich das, was er meistens macht: Der Italiener erzählt von Vätern und Söhnen, von Jungs in diesem komplizierten Alter zwischen zwölf und 15, wo sie unsicher und wütend sind, Hilfe brauchen und keine wollen oder wenigstens nur dann, wenn es nicht wie Hilfe aussieht. Diese Jungs sehen bei Gipi auch genauso aus: ungelenk, staksig, mit Segelohren. Und um alles zuzuspitzen, siedelt Gipi seine Geschichten gerne in obskuren Krisen- oder Nachkriegsgegenden an, wo man sich nicht um die richtigen Turnschuhe oder das richtige Smartphone sorgt, sondern darum, wo man in dieser Nacht schläft. Aber so weit wie diesmal ist der 54-Jährige noch nie gegangen.
Zwei Jungen leben mit ihrem Vater in einer einsamen Hütte in einem See. Die Zivilisation existiert nicht mehr. Der Vater hat sie noch erlebt, die Zeit, als es Teppiche gab und man Hunde noch gestreichelt hat anstatt sie zu essen, aber seine Söhne kennen nichts mehr davon. Man frisst, was man kriegt, aber die Fische im See sind meistens vergiftet. Das Wenige, das man ergattert, tauscht man gegen gammelige Maiskolben, bei der „Hexe“ oder mit Aringo, also bei den wenigen Nachbarn, die sich weit voneinander entfernt genauso in Hütten im Schilf verstecken, auch weil im See immer wieder Leichen auftauchen. Keiner traut keinem, für diese Welt erzieht der Vater seine Söhne: streng, nach harten, einfachen Regeln, mitleidlos. Klingt nicht schön, aber ab hier zieht Gipi die Schrauben erst so richtig an.
Ein Tagebuch für zwei Jungs, die nicht lesen können
Der Vater stirbt und hinterlässt den Jungen nichts weiter als sein Tagebuch, das sie nicht lesen können. Also suchen sie jemanden, der ihnen sagen kann, was drin steht. Sie besuchen Aringo, den sie ohnehin verdächtigen, ihren Vater vergiftet zu haben, und als er sich weigert ihnen zu helfen, bringen sie ihn um. Sie besuchen die „Hexe“, doch während des Besuchs wird die „Hexe“ gewaltsam von Fremden entführt, die Jungen können sich gerade noch retten. Sie gehen zu den „Großkopfzwillingen“, einem verseuchten Brüderpaar, das Gemüse anbaut, Schweine hält und im Keller Mädchen gefangen hält, mit denen als Tribut es sich die unheimlichen Entführer vom Leib hält.
Es ist schlicht überwältigend, wie realistisch Gipi diese barbarische Welt inszeniert, in der man entweder mühsam ums Überleben kämpft oder sich dieses Überleben auf Kosten der anderen erkauft. Ein Großteil dieses Realismus stammt aber nicht von den rücksichtslos illustrierten Varianten von Mord, Plünderung, Vergewaltigung, sondern auch von der einfühlsamen Zeichnung der beiden Söhne.
Angst zeigt man nur unter Wasser
Santo ist der größere, ältere, aber zugleich auch eher zögerlich und langsam. Lino, der jüngere, gibt den Ton an, er ist derjenige, der beschließt nicht einfach in der Hütte weiter zu vegetieren, sondern das Geheimnis des Tagebuchs zu ergründen. Gipi nimmt sich viel Zeit, um die beiden Jungen und ihr Verhältnis zueinander zu porträtieren. Als beide nach dem Tod ihres Vaters die Hütte in einem kleinen Boot verlassen, lässt Gipi beispielsweise Lino mitten im See aufstehen, ins Wasser springen und auf den Grund tauchen, wo er seine Angst und Wut und Trauer in einem Luftblasenschwall loswerden kann – ohne dass sein Bruder es mitbekommt. Weil Lino genau weiß, dass die gesamte Verantwortung jetzt auf seinen schmalen Schultern lastet.
Aber derselbe verunsicherte Lino kann jederzeit problemlos Leichen die Hemden und Hosen ausziehen, wenn man die Klamotten noch verwenden kann. Manchmal reicht Gipi für seine Beobachtungen ein einziges Panel, aber mit geradezu unheimlichem Geschick fürs Timing zieht er solche Szenen auch über mehrere Seiten, ohne dass es fade würde.
Präzise gesetzte Action
Man kennt das von ihm, aber ungewöhnlich ist, dass er diesmal mit ebendiesem Geschick auch präzise gesetzte Gewalt- und Actionsequenzen einfügt: Damit katapultiert er sich aus der nachdenklichen Kunstecke und wird zugänglicher, er erreicht damit Thrillerqualität auf Tarantino-Niveau, ohne dabei Abstriche an seiner Ernsthaftigkeit zu machen. Mainstreamfans werden seinen Zeichenstil vermutlich noch immer nicht lieben: Aber wer sich mit ihm anfreunden kann, hält vermutlich die Graphic Novel des Jahres in den Händen. Für den Max-und-Moritz-Preis haben sie ihn in Erlangen schon nominiert, von mir aus könnte man ihm den Preis sofort geben.
Gipi, Myriam Alfano (Übersetzung), Die Welt der Söhne, Avant Verlag, 30 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.