Westerntitel feiern im Comic ein Comeback: Die Verlage legen Klassiker neu auf oder beleben das Genre neu. Lesen Sie, wo Sie ziehen sollten – und wo Sie steckenlassen können
Liegt’s am ziemlich hervorragenden Videospiel „Red Dead Redemption 2“? An der Suche nach einfachen Problemen und klaren Lösungen? Denn obwohl Western bei Kindern angeblich out sind, im Comic-Bereich sprudeln sie derzeit geradezu. Der „Tagesspiegel“ hat kürzlich eine Sammelgeschichte gemacht, und schon jetzt kann man wieder eine schreiben, ohne große Gefahr von Doppelungen. Sechs Titel finden Sie hier, die perfekte Anzahl, wie wir vom glorreichen Halunken Clint Eastwood wissen. Nicht alle sind top, aber jeder hat natürlich seinen eigenen Geschmack. Und jeder Revolver seinen eigenen Klang.
Punkte sammeln mit Nebel
Antonio Hernandez Palacios wird alt. Nicht schlecht, aber er scheint Mitte der 80er ein bisschen die Lust verloren zu haben. Der dritte „Mac Coy“-Sammelband lässt die absoluten Glanzpunkte vermissen, die aufregend inszenierten Seiten, die völlig aberwitzigen Farbkombinationen. Und die Storys sind immer noch nicht wirklich erstligatauglich. Diesmal pfuscht ihm die Geschichtsbegeisterung besonders deutlich ins Handwerk: Weil Mac Coy ja öfter historische Begebenheiten miterleben muss, wird diesmal deutlich, dass der Held längst über 20 Jahre hätte altern müssen – das wird dann schon etwas sehr wurschtig ignoriert. Aber trotz aller Nörgelei: Noch immer liefert jeder Band von Palacios einen wundervoll zerknitterten, verranzten, staubig verschwitzt stinkenden, authentischen Wilden Westen und gelegentlich auch etwas richtig Neues: Nach einer wundervollen Seite im strömenden Regen verlässt Palacios seine bewährte Strichtechnik. Für drei Seiten im dichten Nebel wechselt er zu Punkten, und das allein ist schon fast wieder den ganzen Band wert.
Mehr Möpse als Kawumms
Auf Anhieb erinnert der Stil von Paolo Eleuteri Serpieri ein wenig an Palacios. Und was die Stories angeht, sind sie vergleichbar nichtssagend. Aber Serpieri zeichnet sauberer, und was Action angeht, ist er in „Lakota“ zurückhaltender: Entweder liegt sie ihm nicht, oder er zeichnet einfach gern seitenweise Dialoge. Nachdem die aber mäßig sind und er nicht über allzu viele Inszenierungsideen verfügt, hat man sich rasch sattgesehen. Das hinterlässt eine rechte Enttäuschung, denn vom Untergang General Custers am Little Big Horn erwartet man doch ordentlich Drama und Kawumms. Da ist es nicht ungeschickt, dass Serpieri nie sein Haupt-Standbein vergisst, das Fantasy-Epos Druuna: Bei Serpieri besteht immer die Möglichkeit, dass einfach mal enorme Frauenbrüste ins Bild ragen. Muss man mögen. Paolo Eleuteri Serpieri, Lakota, Schreiber & Leser, 29,80 Euro
Die richtigen Vorbilder sind nicht genug
Lincoln, ein übellauniger Faulpelz begegnet dem lieben und goldgräberartig verlotterten Gott, der ihm die Unsterblichkeit schenkt und nebenher irgendeine fragwürdige Sache mit dem Teufel laufen hat. Eine Parodie also, und sie klaut bei den richtigen Vorbildern: Jerome Jouvray orientiert sich zeichnerisch an Christophe Blain, sein Bruder Olivier für das Szenario an Lewis Trondheim. Zündet leider nicht, weil: zu viele Konstruktionsfehler. Gott will Lincoln zum guten Menschen und Helden machen, Lincoln stört das aber nicht. Hm. Lincoln will meist seine Ruhe, macht aber doch meist was Gott will. Soso. Es gibt jede Menge Action, aber Lincoln riskiert als Unsterblicher ja nichts. Puh. Dazwischen sorgen ein paar ordentliche Gags und ein paar richtig heftige Szenen für allgemeine Unentschlossenheit. Schade eigentlich, ein neuer Lucky Luke (so wird „Lincoln“ gelegentlich beworben) wäre nett gewesen – aber das ist Lincoln leider nicht. Olivier, Jérôme & Ann-Claire Jouvray, Lincoln, Schreiber & Leser, Bd.1-2, je 14,95 Euro
Rasanter Rollentausch mit Revolver
Ist das ein Western? Eigentlich ist „Mondo Reverso“ was ganz anderes: Eine Geschlechterdebatte, für die Dominique Bertail und Arnaud le Gouëfflec einfach die angestammten Rollen vertauscht haben. Die Frauen haben die Hosen und die Revolver, die Männer die Kleider. Die Vorurteile sind dieselben, bloß umgekehrt: Männer haben immer Kopfschmerzen, Frauen saufen und furzen. Erstaunlich ist, wie weit Bertail/Gouëfflec mit diesem eigentlich recht banalen Dreh kommen – weil es zeigt, dass vieles bleibt, wie es ist: Die Verunsicherung, sich als Mann oder Frau falsch zu verhalten, die eigene Verblüffung, weil es plötzlich Frauen sind, die sehr detailreich Köpfe wegballern und sich einen Dreck um Männer scheren. Wie gesagt: Ein simpler Dreh, und dennoch ist das Ergebnis überraschend irritierend und häufig auch komisch. Aber ist das ein echter Western? Eher zufällig, das Setting hätte man auch im Weltraum oder im ritterlichen Mittelalter durchspielen können. Die Landschaften sind dennoch sehr ansehnlich geraten, und harte Frauen, die einen Revolver, eine Winchester oder einen Sattel herumtragen, einen vollbärtigen Typ im Kleidchen hinter sich herziehend, all das wirkt natürlich deutlich cooler mit einer Zigarette oder Eastwoods Zigarillo zwischen den Zähnen – und den gibt’s im Weltraum eher selten.
Rache und Radau
Ein einarmiger Held in einer völlig verwahrlosten Welt: Klingt ein bisschen nach „Für ein paar Dollar mehr“, und es gäbe schlechtere Vorbilder. Leider fehlt jede Doppelbödigkeit, und damit morden und vergewaltigen die Schurken letztlich nur noch, damit es einen guten Grund zur Rache gibt. Das Ganze kommt in hübschen, aber letztlich handelsüblichen Bildern. Nice to have, genauso nice to have not.
Lederstrumpf mit Schatzinsel-Aroma
Klassisch, aber neu: „Corto Maltese“-Schöpfer Hugo Pratt hat die Serie „Ticonderoga“ gezeichnet, von Hector Oesterheld („Eternauta“) stammt die Story um den titelgebenden jungen Waldläufer, die in den 50ern in Argentinien erschien. Wir sind im britisch-französischen Krieg um Nordamerika, Lederstrumpf-Szenario also, aber aus Jungen-Sicht, der „Schatzinsel“-Perspektive. Das ist gleich dreifach gut: Einerseits sympathisch altmodisch, wird andererseits gerade in Anbetracht des jungen Zielpublikums erstaunlich schonungslos gestorben und getötet. Und Pratt tuscht die Action „Prinz Eisenherz“-würdig, Natur und Landschaft mit viel Sinn für großes Kino, und all das in erstaunlich lebendigem schwarz-weiß, obwohl ihm das Querformat anfangs nicht mal Platz für Splashes lässt. Erstmals auf deutsch, schön gebunden, im Schuber mit vielen Extras – Zeit war’s!
Mit dem Jammern fängt es an: Riad Sattoufs vierter Band des „Arabers von morgen“ erzählt – einseitig und doch universell – die Geschichte einer alltäglichen Radikalisierung
Ist das jetzt rassistisch? Es ist jedenfalls lange her, dass ich einen unsympathischeren Moslem in einem Buch oder Comic entdeckt habe. Und das ist kein Zufall, denn dieser Moslem ist nicht nur deshalb Moslem, weil irgendein Drehbuchautor fand, dass die Rolle noch Fleisch braucht: Bei Abdel hängen die negativen Eigenschaften und seine Herkunft, sogar sein Glaube unmittelbar zusammen. Abdel ist einer der Hauptcharaktere aus dem exzellenten vierten Teil der Serie „Der Araber von morgen“.
Große Träume auf kleiner Grundlage
Riad Sattouf zeichnet darin seine eigene Kindheit zwischen den Welten, zwischen Frankreich und verschiedenen arabischen Kulturen. Abdel ist sein Vater. Man hat schon in den ersten drei Bänden eine gewisse Distanz Sattoufs zu ihm vermuten können, aber so heftig wie jetzt war das noch nicht. Zur Erinnerung: Abdel, ein Syrer, studiert in Frankreich, lernt dort Riads bretonische Mutter kennen und zieht nach dem Doktortitel mit seiner Familie erst nach Libyen, dann nach Syrien, um als Dozent zu arbeiten. Denn Abdel hängt nicht nur an seiner Familie, er träumt auch von einer Zukunft für die islamische, die arabische Welt, er möchte diese Zukunft seiner Heimat mit aufbauen.
Leider ist diese Heimat nicht sehr aufbaufähig. Der kleine Riad beobachtet in den ersten Bänden immer wieder, dass große Teile der Gesellschaft archaisch geprägt sind, grade auf dem Land. Abdel müsste sich gegen die Traditionen stellen, aber so modern ist er eben doch nicht. Er will Karriere machen, aber Ziel dieser Karriere ist ein „Palast“ und Anerkennung als großer Wissenschaftler – innerhalb der kaum belesenen Dorfgemeinschaft. Dass Abdel diesen unauflösbaren Widerspruch nicht zu erkennen vermag, ist die Wurzel einer Menge Konflikte. Doch während das in den ersten Bänden noch naiv, skurril oder idealistisch wirken konnte, schildert Sattouf seinen Vater jetzt als unsympathisch, reaktionär, inkompetent und sogar verschlagen.
Reichtum in der Billigvariante
Irritierend dabei ist, dass all das in Sattoufs freundlichem, niedlich-kindlichem Zeichenstil erzählt wird. Riad ist jetzt zwölf, es kommt ihm komisch vor mit seinen Spielsachen zu spielen. Mädchen sind auf einmal nicht mehr nur Mädchen. Außerdem sieht er seinen Vater inzwischen seltener: Die Familie lebt in Frankreich, Abdel doziert in Saudi-Arabien und kommt nur in den Ferien. Er versucht, die Familie nachzuholen, aber seine Frau will nicht. Abdel schwärmt vom Reichtum Arabiens, erzählt von seiner märchenhaften Karriere. Aber die Realität sieht so aus, dass die Ferien im heruntergekommenen Haus im syrischen Dorf verlebt werden müssen, und dass die goldene, diamantenbesetzte Uhr, die ihm die Scheichs aus Respekt geschenkt haben, sich beim Juwelier als preiswerte glasbesetzte Silbervariante entpuppt. Den Aufenthalt in Saudi-Arabien hat er für eine Wallfahrt nach Mekka genutzt – was ihm fatalerweise im Heimatdorf mehr Anerkennung einbringt als jegliche Bildung. Abdel genießt das und inszeniert sich jetzt mehr als Glaubensexperte. Das wiederum entfremdet ihn dem westlichen Teil seiner Familie.
Abdels Französisch wird schlechter, dafür wettert er gegen Juden im Fernsehen, die ständige Benachteiligung der Araber. Saddam Hussein erlebt er als starken Mann, der endlich alle Ungerechtigkeiten geraderückt, sich Kuwait zurückholt und durch weitere westliche Ungerechtigkeiten aufgehalten wird. Obendrein hat ihn sein Spott über die US-freundlichen Saudis den Job gekostet. Abdel sitzt jetzt also zuhause und hat nichts zu tun. Weil Riad mit Mädchen und Pickeln kämpft, in Frankreich von den Mitschülern nicht für schwul gehalten werden will und in Syrien von den Araberkindern nicht für einen Juden, bekommt er genau so wenig mit wie der Leser, dass sich Abdel radikalisiert.
Peinliche Parallelen
Es ist nicht ganz unverständlich, dass in gewöhnlich rechts unterrichteten Kreisen beim „Araber von morgen“ mitunter die Korken knallen. Nach dem Motto: So isser, der Araber, und da haben wir’s mal aus erster Hand, denn der Sattouf, der muss es wissen, ist ja alles autobiographisch. Man muss sich allerdings das rechte Auge schon mit zwei Händen zuhalten, um peinliche Parallelen zu übersehen: die Denkmuster sind erstaunlich ähnlich.
Es sind immer die anderen, die schuld sind. Juden. Amerikaner. Liberale. Die EU. Frauen. Neumodische Geschlechter mit ihrem Extraklo. Brillant beobachtet ist Abdels wiederholtes, gebetsartiges Aufzählen aller Ungerechtigkeiten, es hat deutlich auch etwas Wohliges, Tröstliches, dieses Frei- und Lossprechen von aller Schuld und Verantwortung für die eigene Situation. Das ist es, was den Vorgang so attraktiv macht, nicht nur für Abdel. Denn genau dieses Modell, dieses berechnende und wehleidige Suhlen in der Opferhaltung, all das offerieren – mit anderen Schuldigen – Heulsusen-Vereine wie Fidesz, IS, FPÖ oder AfD. Doch nicht nur Abdels überraschendes Finale zeigt, dass es sich hier allenfalls anfangs bloß um Sprüche und gedankenlose Rituale handelt: Die Betonung der Opferrolle ist stets Vorprogramm für das, was sich anders nicht rechtfertigen lässt, sie dient dem konstanten Abbau der Hemmschwellen, gerade bei professionellen Vorjammer-Lappen wie Orban, Salvini, Strache, Höcke. Ob Christchurch oder Berliner Weihnachtsmarkt, die mentale Munition ist stets die gleiche. Was den „Araber von morgen“ so unterhaltsam und elegant einleuchtend macht: Riad Sattouf weiß, dass es genügt, diesen Mechanismus einseitig zu schildern, um universell zu wirken.
Riad Sattouf, Der Araber von morgen, Penguin, Bd. 4, 26 Euro.
Erstmals erschienen 2019 bei Spiegel Online .
Gute Nachrichten für „Babylon Berlin“-Fans: Jason Lutes' Mega-Epos „Berlin“ ist dem Serienhit mehr als ebenbürtig – wenn man auf die Krimizutaten verzichten kann
Bis zur dritten Staffel „Babylon Berlin“ ist’s ja noch lange hin: Mai 2019 soll sie abgedreht sein. Was soll man da machen, in der Zwischenzeit? Zu Weihnachten habe ich noch „Berlin 1931“ empfohlen, was zugegebenerweise nicht ganz dieselbe Kerbe trifft. Aber jetzt ist mir was in die Hände gefallen, also – ich bin ganz baff: Es heißt, noch kürzer: „Berlin“. Und ist fast stärker als die TV-Serie. Dabei mag ich nicht mal den Stil.
Atmosphäre schlägt Action
Autor Jason Lutes zeichnet schwarz-weiß, sehr ligne claire, man denkt an Charles Burns, und das hat dann gerade in den Bewegungen immer auch was Hölzernes. Wenn man beispielsweise in „Der nasse Fisch“ reinguckt, Arne Jyschs Comic-Version von Volker Kutschers Bestseller, dann findet man dort ruckzuck die eleganteren Action-Szenen, die moderneren Bildaufteilungen. Bei Lutes hingegen stauben immer diese komischen Hergé-artigen, altbackenen Kringel hinter rennenden Personen oder fahrenden Autos her, mit denen ich mich noch nie anfreunden konnte. Schlechte Voraussetzungen also, und trotzdem hat mich Lutes überzeugt, mehr noch als der auch recht ordentliche Jysch. Warum?
Vielleicht, weil ich irgendwann gemerkt habe, dass ich den Gereon Rath eigentlich nicht brauche. Weil ich die erste Babylon-Staffel stärker fand als die zweite. Da wohnt Charlotte noch in erbärmlichsten Verhältnissen, arbeitet tagsüber im Polizeidienst und schmuggelt sich abends in dieses erstaunliche Nachtleben, in dem alles, aber auch alles nicht nur möglich ist, sondern auch ausprobiert wird.
Die Freizügigkeit des Internets – aber analog
Man stelle sich vor: Die Freizügigkeit des Internets, aber analog – die Leute damals haben das wirklich gemacht, nicht nur angeklickt. Eine Stadt, über die eine zügellose Neuzeit hereinbricht, eine schwindelerregende Flut an Möglichkeiten, Millionen Menschen zwischen Herausforderung und Überforderung. Und genau das, diese schillernde, anziehend-abstoßende Charlotte-Welt schildert Jason Lutes, über 500 Seiten lang. Kein Wunder, dass er damit weit vor Volker Kutscher angefangen hat (Kutscher, der für die Gesamtausgabe ein bewunderndes Vorwort geschrieben hat, macht auch kein Geheimnis draus).
Seit 1996 hat Lutes das Epos heftchenweise herausgegeben. Seine Erzählung erstreckt sich über die Jahre von 1928 bis 1933, aber anders als Kutscher wählt er eine geradezu Lindenstraßen-artige Bandbreite von Personen. Sicher, er lässt am Anfang schnell die (rath-artig aus Köln kommende) Kunststudentin Marthe Müller dem Journalisten Kurt Severing begegnen. Aber er verlässt beide auch so immer wieder so leicht, dass man beide erst nach und nach als Hauptcharaktere identifiziert. In schneller Folge kommt die Proletarierfamilie von Gudrun und Otto hinzu, die jüdische Familie Schwartz, der Obdachlose Pavel, die Lesbe Anna, der alte Polizist Lemke und, und, und, ständig erweitert Lutes das Personal. Dennoch führt der Reigen nicht dazu, dass man den Faden verliert: Die Szenen funktionieren meist, ohne dass man die Protagonisten kennt, weshalb die Figuren wie beiläufig eingeführt werden können.
Man begegnet Wessel, Goebbels, dem Berliner Blutmai
Dazwischen gibt’s historische Begebenheiten (jawohl, auch hier den Berliner Blutmai) und Personen, Künstler und Politiker. Erfreulicherweise wirkt das nur selten so zwanghaft, als müsste Lutes alles und jedes mitnehmen. Im Gegenteil, normalerweise lässt Lutes das geschmeidig und elegant einfließen, wie bei dem heruntergekommenen Nazi, der seine Miete nicht zahlt. Die Vermieterin, selbst nicht gerade reich, lässt kommunistische Kontakte spielen, um die Miete einzutreiben – allerdings wird der Mann daraufhin erschossen. Später erlebt man Joseph Goebbels, der ein Begräbnis nutzt, um den Verstorbenen zum Märtyrer zu machen. Der Tote heißt Horst Wessel. Erst beim Googlen hab ich gemerkt: Wessel war eben jener erschossene Mietpreller.
Armut, Jazz, Hitler, von nichts rührt Lutes zu viel in seinen Bilderbogen, alles ist drin und vermischt sich in seinen Händen zu einer strudelartigen Komposition, in der die von ihrer Offenheit berauschte Gesellschaft allmählich im Chaos versinkt. Die Menschen wissen nicht, was sie zu verlieren haben, sie suchen die Sicherheit der Vergangenheit und wählen dafür die der Zukunft in den beiden Utopien, die damals noch nicht durch die Praxis widerlegt sind – Faschismus und Kommunismus.
Die Zermürbung der Vernunft
Wie die Vernunft zwischen diesen beiden Fronten zermürbt und zerrieben wird, chancenlos und ohne Rückhalt in Staat und Gesellschaft, kann und konnte man schon oft lesen – aber Jason Lutes macht es spürbar. Verblüffend ist, wie europäisch das Werk des Amerikaners geraten ist. Lutes erzählt geduldig, dabei rauher, kantiger als man es vom US-Comic kennt. Das ist kein „Stauffenberg“ mit Tom Cruise, auch nicht wie „Schindler’s Liste“, die Mischung ist eher umgekehrt geworden, wie ein Western nach einem Hartwaschgang von Sergio Leone. Die deutsche Übersetzung hat dabei zum Original den zusätzlichen Vorteil, mit ihrem stellenweise eingefügten Berliner Dialekt noch authentischer, dabei aber weicher und derber zugleich wirken zu können.
Tja. Ich hab den kantigen Zwei-Kilo-Wälzer nicht an einem Tag geschafft, aber doch in dreien, er war so schwer aus der Hand zu legen wie eine Tüte Kartoffelchips. Wenn Sie’s nicht stört, dass Sie grob wissen wie die Geschichte ausgeht, wenn Sie die Kutscher’sche Krimi-Würzung nicht unbedingt benötigen – zugreifen!
Jason Lutes, Berlin, Carlsen, 45 Euro
Arne Jysch, Volker Kutscher, Der nasse Fisch, Carlsen, 20 Euro.
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.