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Comicverfuehrer

Der letzte Band der Peanuts-Werkausgabe ist erschienen. Unerwartetes Fazit: Charles M. Schulz‘ meisterhafte Serie hatte eigentlich nur eine wirklich starke Phase

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Illustration Charles M. Schulz/Peanuts worldwide - Carlsen

Es zieht sich. Erstaunlich. Und nicht nur der soeben erschienene letzte Band der „Peanuts“-Werkausgabe, der die Jahre 1999 und 2000 zusammenfasst: Das wäre ja auch albern. 1999 war Charles M. Schulz, Mitte 70, bereits krebskrank, zitterte beim Zeichnen und schickte sich an, mit seinen „Peanuts“ das fünfte Jahrzehnt zu beenden – da kann man schon mal nachlassen. Nein, das Überraschende ist, wenn man die Werkausgabe zur Hand nimmt, wie früh die Qualität schon nachgelassen hat.


Die geheime Zutat: Furcht


Mitte der 90er? Anfang der 90er? In den 80ern? Es fällt mir selbst schwer, das so zu sagen, aber ehrlich gesagt: Schon Mitte der 70er wird die Angelegenheit ziemlich öde. Und damit sind nicht die Zeichnungen gemeint: Schulz‘ klassischer reduzierter Stil blieb bis zum Ende zuverlässig. Es sind die Pointen und ihre Ausarbeitung, die zunehmend in einer Mischung aus Routine und Ideenarmut versinken. Oder liegt es vielleicht nur am Kontrast?


1950 hatte Schulz den Strip gestartet. Er lieferte zunächst solide optische Gags, Slapstick und Erwachsenes aus Kindersicht. Doch um 1957 passiert eine erstaunliche Wandlung: „Peanuts“ wird düsterer, bedrohlicher und zugleich weitaus witziger. Die magische Zutat dabei ist denkbar ungewöhnlich: Furcht.


Linus und Charlie Brown liegen nachts wach


Sie beherrscht den ganzen Strip, und damit ist nicht nur Charlie Brown gemeint, der erst jetzt allmählich zum ewigen Verlierer wird, zum depressiven Pechvogel mit Versagensängsten. Auch Linus liegt nachts schlaflos im Bett, sogar Snoopy (in einem Strip 1959 sogar Charlie Brown, Schröder, Lucy und Snoopy gleichzeitig). Der nächste Schultag droht, das nächste Spiel der Baseballmannschaft, die Weihnachtsaufführung, die Fahrt ins Ferienlager, der Abriss der Hundehütte.


Einer der besten, weil entsetzlichsten Strips erscheint 1964: Lucy, inzwischen nebenberufliche Psychiaterin, beschließt Charlie Brown zu therapieren, indem sie ihm seine Fehler als Dia-Show vorführt. Man sieht kein einziges dieser Dias, aber man sieht die Reaktion in Charlies panischen Schreien. Drei Panels lang führte Schulz den Leser in eine absurde Horrorwelt aus Kinderperspektive, das vierte Panel bietet eine Pointe, die zwar erlöst, aber tatsächlich oft nur mit sarkastischem Galgenhumor.


Lucys Mix aus Therapie und Terror


Wie Schulz in diese harmlose Welt ein alltägliches Grauen packte, war unnachahmlich: der sonst so selbstsichere Schröder macht sich tagelang Vorwürfe, weil er Beethovens Geburtstag vergisst. Linus stellt fest, dass der Regen aufhört, als er einen harmlosen Kindervers aufsagt – prompt fürchtet er, gesteinigt zu werden. Seine einzige Zuflucht, die Schmusedecke, wird von seiner Schwester Lucy mal zerschnitten, mal zum Drachen verbaut und losgelassen. Und auch Lucy selbst hat Angst: mit ihrem Mix aus Terror und Therapie beweist sie vor allem sich selbst die Überlegenheit des eigenen Lebensmodells – weil der Gedanke, womöglich falsch zu leben, für sie so unerträglich ist, dass ihr nur die Option des Rechthabens und Gewinnens bleibt.


Absurde Bilder für die Ewigkeit


Vor diesem nachtschwarzen Hintergrund wirkten die parallel dazu entwickelten Absurditäten umso erleichternder. Man muss sie eigens aufzählen, weil man sie inzwischen schon für selbstverständlich hält: Snoopy liegt seit 1958 auf dem Dachfirst seiner Hundehütte – physikalisch und anatomisch unmöglich, inzwischen trotzdem ein Symbol gemütlicher Entspannung. Linus verehrt den Großen Kürbis – es hat ewig gedauert, bis ich begriffen habe, dass er damit sogar in Amerika allein ist. Beethovens Geburtstag, Leute so anzuschreien, dass sie in der Luft auf dem Kopf stehen, ein Hund mit Fliegerbrille, der in seiner Fantasie über den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs fliegt, so hingebungsvoll, dass sogar der Leser die Hundehütte als Jagdflugzeug akzeptiert. Knapp zehn Jahre lang zeichnete Schulz Geniestreiche, sieben Tage pro Woche, fast ausnahmslos. Dann begann der Abstieg.


Der Abstieg: Snoopy spielt Golf und Tennis


Kann man das tatsächlich so hart sagen? Man muss sogar, weil der Unterschied so augenfällig ist. Snoopy etwa spielt zunehmend Golf oder hadert mit seinem Tennis – wie jeder andere Sportler. Er joggt, und seine Körperteile beginnen miteinander zu diskutieren. Das Schulhaus fängt an zu reden. Peppermint Patty verheddert ihre Haare im Ringbuch. Woodstock und seine Mit-Vögel machen Dummheiten. All das hat nichts Besonderes, nichts Bedrohliches mehr: Ein Schulhaus hat nichts zu fürchten, Peppermint Patty akzeptiert ihre schlechten Noten achselzuckend. Die tiefschwarze Ebene hellt auf und nimmt dem Strip die Besonderheit. Schulz reduziert zudem den Aufwand.


Der früher exzellent konstruierte Vier-Panel-Strip schrumpft zuerst auf drei Panel – da muss man sich schon mal ein Bild weniger ausdenken. Aus dreien werden gelegentlich zwei oder auch nur eines, das ist dann ein Cartoon ohne jede Dramaturgie, dessen Pointe oft darin besteht, das Snoopy irgendeine Bemerkung mit Hund oder Keks denkt.


Die 90er: immer more of the same


Es erscheinen Aufguss-Figuren: Linus und Lucy bekommen den Bruder Rerun, Snoopy bekommt neben diversen witzlosen Brüdern einen Cousin namens Spike, der in der Wüste wohnt und sich mit Kakteen unterhält. Lucy schüchtert kaum noch ein, phasenweise ist sie so dämlich, dass sogar Charlie Brown Widerworte gibt. Mitte der 90er mutiert Charlie gar zu einer Art in sich ruhendem großen Bruder, dessen Selbstzweifel nachgelassen haben.


Er spielt zwar nicht besser Baseball, hat aber vorübergehend zwei Verehrerinnen, und da ist die Luft dann schon ziemlich raus: Derart raus, dass ich im Nachhinein die neuen Peanuts-Comics, die nach Schulz‘ Tod erstellt wurden, als beinahe gleichwertig akzeptieren muss. Da wurde das Original-Archiv zwar skrupellos geplündert, grausig nachgezeichnet und erschütternd koloriert, aber die spärlichen eigenen Ideen sind denen des ausgelaugten Schulz deprimierend ebenbürtig.

Was bleibt, ist ein großes Lebenswerk, das nicht komplett ins Regal muss – die Bände von 1958 bis, sagen wir, 1974, dafür aber unbedingt.


Charles M. Schulz, Die Peanuts, Werkausgabe, Carlsen, Band 1-25, 29,90-32,90 Euro

Peanuts, Cross Cult, je Band 10 Euro


Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.

„Hard Boiled“ von Frank Miller und Geof Darrow erscheint neu koloriert. Erstaunlich: die veränderten Farben enthüllen wesentlich mehr Details des bösartigen Satire-Klassikers


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Illustration: Geof Darrow/Frank Miller/Dave Stewart - Cross Cult

Tja, die Farben sind neu. Das klingt erstmal nach nicht viel. Der Comic selbst ist auch bereits 27 Jahre alt, er heißt „Hard Boiled“, er war vergriffen und kommt jetzt neu überarbeitet auf den Markt, aber es stimmt: das einzig Neue daran sind tatsächlich die Farben. Warum sollten Sie also trotzdem losrennen und ihn kaufen? Und mit losrennen meine ich nicht: Irgendwann mal, wenn sich’s grade ergibt. Sondern: Jetzt! Sofort!


Seltenes Beispiel sinnvoller Gewalt


Zum Beispiel, weil es eines der wenigen Beispiele dafür ist, wie man mit absolut überzogener Gewalt etwas Sinnvolles ausdrücken kann. Und das liegt nicht mal an Star-Autor Frank Miller, der die Story beigesteuert hat: Sie spielt in der Zukunft und dreht sich um den Kampfroboter Nixon, den man im Glauben lässt, er sei ein Mensch, weil er dann besser funktioniert – der aber dennoch immer wieder Amok läuft. Und Amoklauf heißt in diesem Fall: etwas, das ich in diesem Ausmaß in keinem Comic seither gesehen habe. Dass auf dem Umschlag das Lesealter „16+“ steht, kann da eigentlich nur ein Irrtum sein.


Ich meine: Schon auf der ersten Doppelseite, auf der wir Nixon begegnen, sehen wir zwischen grotesk derangierten Autowracks mindestens 55 Tote, erschossen, zermalmt, Opfer der Bemühungen, ihn wieder einzufangen. Ein Auto von Nixons Herstellerfirma Willeford rast auf ihn zu, knallt mit ihm auf dem Kühler durch die Hauswand hindurch in einen gesteckt vollen Sexshop und explodiert dort. Und trotzdem ergibt dieser kaum überbietbare, zigfache Overkill einen Sinn.


Unvorstellbare Details bis ins letzte Getriebeteil


Denn erstens: Es weckt und verlangt Aufmerksamkeit. Nicht allein durch die Gewalt, sondern auch durch die unvorstellbaren Details. Keiner der 55 Toten auf dieser ersten Doppelseite ähnelt dem anderen, die Häuserwände drumherum sind ausgearbeitet mit allen möglichen Graffitis, Elektroinstallationen, Klimaanlagen, abblätterndem Putz, die Motoren der Autowracks quellen aus den Kühlerhauben, detailgenau bis ins letzte Getriebeteil, Dutzende Einschusslöcher in den Karosserien, und aus den Geschützen, die Nixon unter Feuer nehmen, steigen moskitoschwarmartige Wolken leerer Patronenhülsen, es ist schlichtweg unmöglich, diese Seite umzublättern, bevor man nicht fünf, zehn Minuten drauf herumgeguckt hat. Und so ist es zweitens auch gedacht: Diese Details sind die eigentliche Hauptsache, sie enthalten die entsetzliche und doch ganz normale Welt des Zeichners dieses Massakers: Geof Darrow.


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Illustration: G. Darrow/F. Miller/D. Stewart - Cross Cult

Darrow, US-Amerikaner, ist 62 und hat einen klaren Blick auf die Defizite seiner Heimat. Was Darrow zeichnet, ist nichts als grotesk herausgearbeitete Realität. Der Rettungswagen, der Nixon in die Werkstatt fährt, kurvt durch ein Viertel voller zerlumpter Elendsgestalten, die auf den Bürgersteigen unter Pizzaschachteln schlafen, wie vorher die Patronenhülsen zeichnet Darrow jetzt den Dreck, die Müllhalden, Flaschenscherben auf der Straße, die streitenden Säufer, Menschen, die übereinander steigen, scheißende Tauben und Hunde. Firmenboss Willeford ist ein fettes Monster, das in einer Badewanne von einer ausgefeilten Maschine gereinigt und zugleich ernährt wird, und erst, wer den winzigen, wunderschön altmodischen Verästelungen und Kanülen über die zahllosen Motoren und Gelenke bis ganz nach oben an den Bildrand folgt, sieht, was die Maschine in den Fettsack hineinpumpt: Dutzende Dosen Seven Up, Coca Cola, Pommes Frites-Tüten, Hamburger, Schokoriegel und zwei Kleinkinder. Und als Nixon später wieder im Einsatz eine kidnappende Oma verfolgt, stellt er sie vor einem Verkaufsautomaten für Handfeuerwaffen, Wurfsterne und Handgranaten.


30 Jahre vor der Opioid-Krise: Drogenspritzen überall


Der Boden dort ist übersät von Müll, Essensresten und Spritzbestecken, über die Straßen gehen Menschen aller Schichten und Perversionen, gepierct, ein SM-Fan hat sich – wie ich heute erstmals sehe – einen Hamster ans Schienbein geschnallt. Viele sind nackt und so tätowiert wie es inzwischen selbstverständlich ist. Und man könnte argwöhnen, dass Darrow einfach spießig ist, aber ein kurzer Blick in die Nachrichten belegt seine Kritik: Darrow beobachtet und analysiert sehr präzise.


Nicht nur Tätowierungen und Amokläufe sind in den USA 27 Jahre später Wirklichkeit, sondern auch die Leute in Latzhose, denen in „Hard Boiled“ die Drogenspritzen gleich reihenweise im Arm stecken – die USA befinden sich noch immer offiziell im Notstand durch die Opioid-Krise, und die Süchtigen sind genau solche Normalos. Besonders bizarr oder auch einleuchtend wirken Dreck, Sex, Elend und Brutalität allerdings durch die in allen Gesichtern herrschende Gleichgültigkeit. Im „Behemoth“-Supermarkt, wo Menschen rucksackgroße Gentechnik-Früchte, meterlange Riesenwürste und fässerweise Verdauungshilfe kaufen, verzieht keiner die Miene, wenn der Mann in der Kassenschlange seiner Freundin die Faust ins Gesicht schmettert.

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Illustration: G. Darrow/F. Miller/D. Stewart - Cross Cult

Erstaunlich ist: Vieles von dieser faszinierenden Unerträglichkeit fällt erst mit der neuen Farbgebung so richtig auf. Erstaunlich, was Erst-Farbgeber Claude Legris in einem teilweise extrem psychedelischen Farbsumpf versenkt hat – Dave Stewarts recht konservative, kontrastreichere Kolorierung macht jetzt noch viel mehr Schauriges zugänglich. Man kann geradezu süchtig werden nach dieser verstörenden, unterhaltsam-abstoßenden Welt. Rätselhaft bleibt nur, warum Darrow in Deutschland nicht erfolgreicher ist: Schließlich zeichnet er noch immer und hat dabei weder in seinem bösen Witz, seiner Spiellaune noch seinem Ideenreichtum nachgelassen. Dennoch: Für den neuesten Band und das gerade erstmals gesammelt erschienene erste Abenteuer des „Shaolin Cowboy“, in dem sein Held nicht nur gegen Hunde mit Messerbeinen, fliegende Haie, eine Krabben-VW-Käfer-Monstermischung und gegen ein gigantisches motorgetriebenes Baby mit Trump-Kopf kämpft, findet sich bislang kein deutscher Verlag.

Deshalb: „Hard Boiled“ holen. Jetzt! Sofort!


Geof Darrow, Hard Boiled, Cross Cult, 30 Euro

Geof Darrow, Shemp Buffet, Cross Cult, 25 Euro

Geof Darrow, Who’ll Stop The Reign (engl.), Dark Horse Books, ca 20 Euro

Geof Darrow, Start Trek, Dark Horse Books (engl.), ca. 22 Euro


Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.

Der ideale Comic zur Frankfurter Buchmesse: "Der Bücherdieb" von Alessandro Tota und Pierre van Hove ist ein boshafter Rundumschlag gegen die Literaturszene.


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GUT ZU FUSS Illustration: Alessandro Tota/Pierre van Hove - Reprodukt

Will man sowas lesen? Gerade jetzt, zur Buchmesse? Über 7000 Aussteller (und Ausstellerinnen), 200 Hammerautoren (und Hammerautorinnen), alles, was Rang und Namen hat, die richtig große Literatur, schöne, gute Premium-Kunst, und dann kommt da dieser kleine gemeine Comic und sagt: alles Humbug. „Der Bücherdieb“ heißt er, von Alessandro Tota und Zeichner Pierre van Hove, und das Gemeine ist, dass er so authentisch übertreibt.


Die Geschichte spielt im Paris der 50er Jahre. Daniel Brodin studiert widerwillig Jura und stiehlt nebenher Bücher. Er hält sich für geschickt und kaltblütig, tatsächlich ist seine Masche eher brachial: Er lässt sich vom Buchhändler erwischen, verprügeln und das gemopste Buch wieder abnehmen – weil er insgeheim ein zweites geklaut hat. Obwohl er sanfte literarische Ambitionen hat, schreibt er selbst nicht. Seine Flamme Nicole schleppt ihn zu einem Dichterwettstreit, nur als Zuhörer, und als die Literatenrunde nach langen Streitereien in die Runde fragt, ob denn womöglich ein „junger, unerfahrener Dichter“ anwesend sei, steht er auch nur auf, um Nicole zu beeindrucken. Er trägt ein geklautes Gedicht vor, immerhin selbst übersetzt – die Literaturszene ist begeistert. „Sie umringen mich, loben mich“, stellt er fest, „ich wünschte es würde nie enden.“


"Ich wünschte, es würde nie enden"


Kurz darauf verschlägt es Brodin in ein literarisches Untergrund-Café, wo er sich als frisch entdeckter Dichter erst blamiert und dann die Runde für sich gewinnt, indem er seinen Coup mit dem geklauten Gedicht als avantgardistisches Kabinettstück beichtet. Ein weiterer Triumph, Brodin ist auf Wolke Sieben. Und obwohl man die ganze Geschichte aus Brodins naiv-geltungssüchtigem Blickwinkel erlebt, hat man da schon eine Menge über den Literaturbetrieb gelernt. Oder?


Da wäre schon mal Brodins Schwanken zwischen grandioser Selbstüberschätzung, Suche nach Anerkennung (von Establishment, Untergrund oder einfach nur Frauen) und nackter Furcht vor Entlarvung. Oder die gesellschaftliche Erwartung an einen Dichter: „Mein gewöhnliches Aussehen sorgt für Enttäuschung. Man hätte sich einen Proletarier gewünscht oder besser noch einen Obdachlosen.“ Nicht zu vergessen: der versammelte Quatsch der Untergrund-Szene, der plötzlich klingt wie eine weise Weltanschauung, wenn man ihn nur selbstbewusst genug vorträgt: „Man sollte gehen, um sich zu verirren, nicht um anzukommen.“ Oder: „Die Avantgarde ist ein gefährliches Metier.“ Oder: „Wenn ich ein Auto klaue, warte ich auf den Besitzer ehe ich losfahre. Er soll mich sehen.“


"Bravo, mein Junge. Sie haben das Zeug zum Dichter!"


Ebenfalls nicht ganz unvertraut ist der Wunsch der Literaturkenner, neue Künstler selbst zu entdecken: „Sie wollen die Pariser Literaturszene in die Luft jagen“, reimt sich der Experte Bélanchon daraus zusammen, dass er Brodin mal als Gedichtrezitator und mal mit dessen Saufkumpanen gesehen hat. „Bravo, mein Junge. Sie haben das Zeug zum Dichter!“

Klar, den „Bücherdieb“ kann man auch als soliden Rundumschlag bezeichnen. Besonders wirkungsvoll ausgeteilt, weil Pierre van Hoves Bilder so lakonisch daherkommen. Schwarz-weiß getuscht, auf jede Karikatur verzichtend, ein bisschen Sempé zitierend, sehr nahe an Joann Sfar arbeitend, zielsicher auf die rauchgeschwängerte, anzugtragende Ernsthaftigkeit vertrauend, in der die Protagonisten ihre Ansichten zelebrieren. Aber insgesamt drischt „Der Bücherdieb“ doch auf jeden gleichermaßen ein und schießt dazu auch noch aus sehr sicherer Distanz, denn die 50er, die waren wirklich ziemlich altbacken und spießig, nicht wahr? Damals hat einen ja schon ein Rollkragen zum Revoluzzer befördert, heute ist das alles längst ganz anders. Souveräner, gereifter, toleranter, entspannter.


Ist es das?


Was ist denn der munter zelebrierte deutsch-türkische-Slang hiesiger Gangster-Rapper anderes als der Rollkragen des Hip-Hop? Wenn der bekannt reflektierte Kollegah schreibt, dass „ein Alpha“ den Blick „nicht auf den Arsch irgendeines Anführers“ richtet, für eine Leserschaft, die mit dem Kauf seines Buches genau das tut und sich dafür auch noch willig die Ohrfeige des Autors abholt – zeugt das nicht vom einhelligen Wunsch von Autor und Leserschaft nach einem modernen Existenzialismus: „Isch fick disch also binnisch“? Und wenn Rowohlt die Verlegerin Barbara Laugwitz gegen Florian Illies austauscht, weil ihre sachorientierte Nüchternheit nicht die Sehnsüchte der Szene bedient – ist das nicht dasselbe wie: Ihre „gewöhnliche Erscheinung sorgt für Enttäuschung“?

Will man sowas lesen? Gerade zur Buchmesse?

Ich auf jeden Fall.


Alessandro Tota/Pierre van Hove, Der Bücherdieb, Reprodukt, 20 Euro


Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.

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