Dem Autor folgen (1): Vor der Solokarriere illustrierte Mikael Ross Szenarien des Belgiers Nicolas Wouters – was taugten die Kooperationen?
Gern predige ich ja, man solle auf der Suche nach Comics, die einem gefallen, dem Autor folgen, weniger dem Zeichner. Das liegt natürlich auch an mir: Weil mir eine blöde Geschichte selbst den besten Zeichner madig macht. Aber es gilt natürlich auch: Wenn ein Zeichner selbst gut textet, bebildert er vielleicht bei Kooperationen ebenfalls nicht jeden Mist. Bestes Beispiel: Mikael Ross.
Die Prequels zum Volltreffer
Der hat ja gerade erst mit „Der verkehrte Himmel“ geglänzt (und nebenbei schön erklärt, wie man den vietnamesischen Familiennamen Nguyen richtig ausspricht). Sein zweiter richtiger Volltreffer als Autor und Zeichner nach „Der Umfall“. Weshalb ich mir die Bände „Totem“ und „Lauter leben!“ vorgenommen habe, die Ross am Anfang seiner Karriere lediglich bebildert hat. Beide Szenarien stammen vom Belgier Nicolas Wouters. Taugen sie was? Oder hatte da einfach nur ein Durchschnittstexter einen prima Illustrator entdeckt?
Es scheint eher, als habe der Kontakt zu Wouters Ross gleich auf die richtige Scheine gesetzt. Man merkt auf jeden Fall schon, wo Ross live beobachten konnte, was ein starker Einstieg wert ist. Und dass Kinder/Jugendliche hervorragende Protagonisten sind. „Lauter leben“ beginnt mit einer Rückblende, Thomas, irgendwo zwischen neun und elf, besucht seinen Freund Martin. Der hat einen behinderten Bruder, weshalb seine Eltern nicht viel Zeit für ihn haben. Was uns niemand erklärt, wir sehen es selbst: Martin hat sein Zimmer zu einer finsteren Räuberhöhle voller Mutproben umgebaut, das Thomas nur mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung betritt.
Revival für eine Nacht
30 Jahre später begegnen sich die beiden Freunde wieder. Thomas hat eine Familie und ist unglücklich. Martin ist Punk geworden, geblieben und inzwischen so weit unten angekommen, wie’s als Punk nur geht. Für eine Nacht werden sie ihre Freundschaft wieder aufleben lassen. Diese Nacht gibt Ross die Gelegenheit, alle Register zu ziehen.
Schlägereien, großartige Stadt-bei-Nacht-Panels, Strandszenen, Punkkonzerte. Überhaupt sehr schön: Sein Händchen für Musik und Geräusche, eine besondere Herausforderung im lautlosen Medium Comic. Und zwischen Action und Absturz sickern die Details dieser bizarren Freundschaft in den Leserkopf. Schon mal ein richtig guter Band.
Lachflash dank Adrian
Auch „Totem“ startet exzellent: Eine düstere OP-Szene, bei der sofort irritiert, dass der Chirurg mit seinen Gummihandschuhen das Licht ausmacht, und der Raum – ist das eine Besenkammer? Beim zweiten Blick zeigt sich: Das OP-Besteck ist genauso seltsam. Da ist eine Wäscheklammer dabei, und ein Schweizer Taschenmesser. Und der Patient reicht dem Arzt selbst das Klopapier?? Da spielen zwei Jungs Emergency Room, schön durchkonstruiert, mit Tomatensaft und Wiederbelebung durch zwei Bügeleisen, bis Mama zum Essen ruft. Doch obwohl das Spiel vorbei ist, steht plötzlich der Patient nicht mehr auf! Dramatik, Komik, Erleichterung – Schock. Nach fünf Seiten stand mir schon mal der Mund offen.
Während der „Patient“ im Krankenhaus um sein Leben kämpft, wird der „Chirurg“ zur Betreuung ins Ferienlager geschickt. Dort machen dumme Jungs dumme Spiele. Die Älteren zwingen die Neuen, mit der Faust auf Bäume einzudreschen. Dazu muss man laut „Aadriaaan!“ rufen. Es hat etwas gedauert, bis ich geschnallt habe: Wir sind in den 80ern, und die Jungs spielen Rocky nach, Rockys Ruf nach seiner Frau und das Boxtraining sind zu einem superdämlichen Ritual verschmolzen. Lachflash.
Inferno bei Nacht
Erneut gelingt Nicolas Wouters ein starkes Szenario, diesmal mit „Herr der Fliegen“-Touch in den verregneten Ardennen. Die Betreuer kämpfen mit der Jungshorde, die Jungs mit ihrem Mannwerden und den gruselig dunklen Wäldern drumherum. Ross inszeniert infernalische Feuerrituale bei Nacht, entflohene Raubtiere, diesmal mit mehr schwarzem Strich und weniger wässriger Fläche. Dazu kommen starke, witzige, einfühlsame Dialoge, gute Gesichter und ein Schluss, dass es einem vor Rührung die Luft abdrehen kann.
All das wirkt so gut, dass Ross und Wouters eigentlich auch hätten zusammen weiterarbeiten können. Aber der Auftrag für „Der Umfall“ war vermutlich ein One-Man-Job – oder aber für Ross optimal, um sich selbst auszuprobieren. Dass Behinderte kein Tabuthema sind, hatte ja schon „Lauter leben!“ gezeigt. Nicolas Wouters wurde seither nur noch auf dem französischen Markt veröffentlicht, und da enden meine Lesefähigkeiten...
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Die grandiose Jung-Frauen-Romanze „Roaming“ nutzt drei simple Zutaten für fünf magische Tage: Sightseeing. Zurechtfinding. Verliebing
Ja, genau, so muss das laufen mit diesen Preisverleihungen. Denn natürlich hab ich „Roaming“ dereinst in der Vorschau gesehen. Aber der alte weiße Mann hat halt wieder mal irgendwas mit „queer“ gelesen, irgendwelche Pastellfarben gesehen, und sofort GÄHN. Aber genau dafür sind Preise gut: Den Eisner-Award gab es kürzlich für „Roaming“, und prompt denkt man: Huch, vielleicht hab ich was verpasst!
Tja: Genau so ist es.
Die Suche nach der besten Pizza
Zwei Frauen stecken dahinter, Cousinen, Jillian und Mariko Tamaki, sie sind solide in den 40ern. Mariko entwirft Text und Szenario, Jillian liefert die Zeichnungen. Beides kommt unscheinbar daher, denn die Geschichte ist ein absolutes Nichts: Drei junge Kanadierinnen kommen für fünf Tage als Touristinnen nach New York. Sie machen null Besonderes, Sightseeing, Zurechtfinding, Verliebing, das ist schon alles. Und die Zeichnungen sind auch noch superschlicht, „Tim-und-Struppi“ oder Walter Trier in reduziert, nur in Schwarz-weiß mit zwei Ergänzungsfarben, Lila und Beige. Und trotzdem kann man’s kaum aus der Hand legen. Wie geht das?
Indem man dem Leser die Charaktere sofort ans Herz legt. Mariko Tamaki gelingt das, indem sie die Zoe (so um die 18) erst der Verlorenheit nach der Ankunft am fremden Flughafen aussetzt und dann unter den ankommenden Touri-Horden endlich ihre Jugendfreundin Dani finden lässt. Das Wiedersehen inszeniert dann Jillian als Splash mit einem derart umwerfenden Schwung, dass das monatelange gegenseitige Vermissen förmlich aus den Buchseiten spritzt. Und dann rührt Mariko einen Zeitzünder ins Glück: Dani hat eine Freundin mitgebracht, die selbstbewusste Fiona.
Verführerische Arroganz
Eigentlich klassischer Mangastoff, der hier eine Spur erwachsener verabreicht wird. So sind die Mädchen nicht marktgerecht durchdesignt: Zoe ist ein kurzgeschorener Außenseiter im schwarzen Hoodie, Dani ist eine stämmige Unscheinbarkeit in Latzhosen, und die moppelige Fiona brezelt sich zwar gern auf, aber das Verführerische kommt vor allem aus ihrem arroganten Selbstbewusstsein. Zudem wird anders als im Standardmanga viel gezeigt und wenig zugetextet. Über viele Seiten breitet Jillian den Zauber New Yorks aus. Aber weil die Story 2009 spielt, fehlt die permanente Selfie-Perspektive: Stattdessen herrscht das Gefühl des ersten Entdeckens, Tage mit viel Zeit, ohne Termine und andere Pflichten als der Suche nach der besten Pizza. Kaffee aus Bechern trinken wie Serien-Ermittler. Was einkaufen. Und sich ein bisschen verlieben.
Allein mit dem Flirt
Auch angenehm: Keiner diskutiert hier ewig über seine Orientierung. Zoe und Dani sind auch vor allem Freundinnen, kein Couple. Und der Sprengsatz Fiona zündet ganz automatisch, weil Fiona einfach nicht lang fragt, sondern mal ein bisschen anfasst, Finger im Vorbeigehen streift. Wozu, ebenfalls nicht-standard-mangamäßig, auch niemand dazuschreibt „Finger im Vorbeigehenstreif!“ plus anschließendes „Zusammenzuck!“ Der Moment gehört ganz allein den Mädchen mit den jeweiligen Fingern und dem Leser, herzlichen Dank.
Cremiger Schmelz aus Lila und Beige
All das wirkt aber auch deshalb so zauberhaft, weil Jillian es mit erstaunlichen Seiten und Übergängen geradezu schwelgerisch ausbreitet. Abwechslungsreiche Blickwinkel auf Stadt und Besucherinnen, gut beobachtete, präzise eingefangene Bewegungen. Simple und erfrischende Action-Shots in U-Bahnhöfen oder fahrenden Zügen. Einen ganz eigenen Reiz bietet dabei der Farbmix, gerade auch das verblüffende Zusammenspiel von schwarz-exakten und farbig-sanften Linien, eine eigenwillig cremiger Schmelz, wie kalte Butter auf heißem Toast.
So. Und wer jetzt mit wem was anfängt und wer verletzt wird und wie alles ausgeht, das sage ich jetzt alles nicht. Lassen Sie sich überraschen, rühren, verzaubern und erleben Sie New York nochmal wie damals, mit viel Herzklopfen und ganz wenig Geld. Und ich schau als Nächstes, was die Tamakis sonst noch so gemacht haben.
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Die Outtakes (14): Wanderer aus Norwegen, Kommunisten aus Schweden und Miesepeter aus dem Reich der Tiere
# metoo
Das Thema „Jakobsweg“ scheint seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ (2006) immer weiterzugehen. Comiczeichner Jason liefert jetzt mit „Ein Norweger auf dem Jakobsweg“ seine Version dieser Mischung aus Wandern, Selbstfinden und Fasten, und die unterscheidet sich von den ganzen anderen Jakobswandereien erstaunlich wenig. Man muss sich jeden Morgen den Weg erst suchen, weil er so gut/schlecht beschildert scheint wie viele andere Wanderwege. Man begegnet auf den Etappen immer denselben Leuten, nämlich denen, die etwa im selben Tempo unterwegs sind. Und den Langsameren, die man ein-/überholt. Die Dialoge ähneln und wiederholen sich und obwohl Jason das mild-ironisch thematisiert, wird es allein dadurch noch nicht komischer. Und durch den trockenen, schwarz-weißen Stil kommt auch die möglicherweise hübsche Landschaft nicht recht zur Geltung. Aber wer weiß, wenn man das alles selbst mitgemacht und dreizehn andere Bücher dazu gelesen hat, dann wälzt man sich vielleicht am Boden und japst: „Irre! Genauso isses!“
Bepoppte Eigenheime
Schweden in den 70ern. Ulrik und Siv sind verliebt. Siv hat zwei Kinder und steckt noch in einer faden Ehe. Ulrik ist überzeugter Betonkommunist. Kann das gutgehen? Ich will's nicht verraten, aber ich vermute: Je älter Sie sind, desto eher liegen Sie richtig. Was ich sagen kann: Das betrübliche Szenario von Anneli Furmarks „Roter Winter“ ist präzise beobachtet. Die bürgerliche Fassade, die kommunistische Fassade, nichts davon gibt Halt oder Hoffnung. Und Siv grübelt recht treffend über die schwedische Kleinhäuschenlandschaft, dass es womöglich „nur eine Sache gibt“ die das Ganze „am Laufen hält: Dass die Paare darin miteinander schlafen. ... Wenn sie damit aufhören, stehen die Häuser zum Verkauf. An ein Paar, das noch miteinander schläft.“ Bei allem gekonnten Trübsinn hat mich die Geschichte dann zum Schluss doch noch gekriegt. Warum dann Outtake? Vor allem, weil ich mir ein bisschen mehr Erkenntnis für heute erhofft hatte. Scheinheilige politische Sturköpfe in einer wunderlichen Gesellschaft hat die Realität ja ausreichend zu bieten.
Zuckerlieb
Es gibt was Neues von Josephine Mark, der „Trip mit Tropf“erin. Also, teilweise, weil sie den „Bärbeiß“ nur gezeichnet hat, der Text stammt von Jutta Bauer und Annette Pehnt. Die Geschichten sind relativ simpel: In einem asterixniedlich geratenen Dorf leben lauter nette Tiere und das harmoniesüchtige Tingeli. Dann zieht der Bärbeiß ein, in Miesepeter, der alle anraunzt und am liebsten daheim bleibt. Das Tingeli nimmt sich seiner an, und knackt natürlich die harte Schale. Klingt nett, ist aber nicht umwerfend: Schuld ist ein Konstruktionsfehler. Während nämlich das Tingeli so schön unerträglich zuckerlieb ist, weil es Streit nicht erträgt, ist der Titelheld bärbeißig, weil… hm, einfach so. Anders als bei „Trip mit Tropf“ bilden beide keine Zwangsgemeinschaft, sondern könnten die Bemühungen genauso gut einstellen, grade der Bärbeiß käme damit gut klar. Aber: Ist das Kindern wichtig? Da entscheiden vermutlich eher Optik und Lacher, bei beiden kann „Der Bärbeiß“ ordentlich punkten.
Annette Pehnt, Jutta Bauer (Text), Josephine Mark (Zeichnungen), Der Bärbeiß, Kibitz Verlag, 15 Euro