Der Shyamalan des Comics
Definitiv kein One-Hit-Wonder: Nach Joris Mertens' „Das große Los“ erscheint auch „Beatrice“ auf deutsch, das verlockend rätselhafte Debüt des Belgiers
Die Entdeckungsreise geht weiter! Gerade erst durfte man sich über „Das große Los“ von Joris Mertens freuen, jetzt schiebt der Splitter-Verlag den Band „Beatrice“ nach. Und tatsächlich geht die Rechnung erneut auf: Extrem ansehnlich, gut erzählt und überraschend zugleich. Was wiederum eigentlich gerade eben nicht überraschend ist.
Unerwartet wie „The Sixth Sense“
Denn Splitter hat nur deshalb so schnell einen neuen Mertens, weil der seine Comic-Karriere eigentlich mit „Beatrice“ angefangen hat, der Band entstand vor zwei, drei Jahren. Da war also schon klar, dass der Mix aus opulent-nostalgischer Atmosphäre, geschicktem, fesselnden Plot und unerwarteter Wendung bei Mertens offenbar Prinzip ist. Die Herangehensweise erinnert an „The Sixth Sense“, an „The Village“ – ist Mertens womöglich der M. Night Shyamalan des Comics?
Wir befinden uns erneut in diesem seltsamen, namenlosen Brüssel-Paris der 60er, 70er Jahre. Erneut versetzt Mertens seine Leser mit großzügigen, manchmal doppelseitigen Splashes in die canyonartigen Straßenschluchten der Gründerzeit-Boulevards. Prächtige Häuserfassaden, gespickt mit Leuchtreklamen, rammelvolle Straßencafés, Dauerstaus in restlos überfüllten Straßen einer Zeit vor der Ölkrise. In diesem Dickicht wühlt sich jeden Tag Beatrice zu ihrem Arbeitsplatz. Gewitzt hat Mertens sie in einen roten Mantel gesteckt, so wird jedes der großen Wimmelbilder zugleich zum Suchbild. Und auch Beatrices Job ist gut gewählt: Sie passiert nicht nur die verheißungsvoll gefüllten Läden und Schaufenster aus der Ära vor Amazon, sie arbeitet in einem Kaufhaus in der Lederwarenabteilung.
Nostalgie: Die Zeit vor Ölkrise und Amazon
Erneut kann einen Mertens‘ Inszenierung zum Schwärmen bringen: Wie er die Stadt mit der Sonne morgens zum Strahlen bringt und mit den Leuchtreklamen nachts zum Glühen. Wie geschickt er sich für seine Stadt die Authentizität der Autos ausborgt, indem er immer nur kleine Details zeigt: Den Scheinwerfer eines Peugeot 204, das Heck eines Renault 6, den Stummelhintern der Citroen DS. Der Arbeitsalltag in der glamourösen Welt des Kaufhauses, das Kaufhaus selbst mit dem gigantischen, opernhaften Treppenaufgang in Samtrot-Gold. Und dagegen die Einsamkeit der schüchternen Beatrice.
Jetzt platziert Mertens auf Beatrices Arbeitsweg am Bahnhof eine knallrote Stofftasche. Sie lässt sie stehen, und dann – passiert nichts. Aber am nächsten Tag ist die Tasche wieder da. Und dann wieder und eines Tages greift Beatrice zu. In der Tasche ist ein altes Fotoalbum.
Ich sage jetzt nicht, was in dem Album für Fotos sind, welche Folgen das für Beatrice hat, und welche völlig aberwitzige Schlusskurve auch diese Geschichte von Mertens nimmt. Das finden Sie mal schön selber raus. Aber ich verrate Ihnen, was Beatrice währenddessen sagt. Nämlich genau das, was Sie denken.
Hundertprozentig.